- Widmung der symphonischen Dichtung "Tapiola" -

Da dehnen sich des Westlands Wälder, uralt, geheimnisvoll in wilden Träumen, Waldgeister weben in dem Dunkel.

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Montag, 18. Oktober 2010

UMARETE WA MITA KEREDO – Ich wurde geboren, aber… (9,5/10)

Yasujiro Ozu (1903-1963)

Wenn man im Westen von den großen Drei des klassischen japanischen Kinos spricht, wird sich im Allgemeinen auf Kurosawa, Mizoguchi und Ozu bezogen. Akira Kurosawa wurde verkürzt vor allem als der Regisseur dynamischer Samuraiepen wahrgenommen. Kenji Mizoguchi galt als der Meister des Gefühlskinos, des emotionalen Frauendramas. Und im Schatten der Zwei, mit einiger Verspätung, erlangte Yasujiro Ozu mit der strengen Stilistik seiner ruhig erzählten, im Umfeld der japanischen Familie angesiedelten Alltagsgeschichten Bekanntheit. 


Während Kurosawa und Mizoguchi seit den 1950er Jahren, um die Gunst des weltweiten Kinopublikums buhlten und auf den großen europäischen Filmfestivals zahlreiche Preise einsammelten, blieb Ozu eher zurückhaltend im japanischen Markt verhaftet. Er war daher der letzte der Drei, dessen Werk von westlichen Cineasten für sich entdeckt wurde. Heute wird Ozu von Kennern jedoch als der vielleicht größte Stilist, den das japanische Kino je hervorgebracht hat gefeiert. Und dennoch, auch weiterhin gilt, dass für einen heutigen Kinogänger der Zugang zu seinem Werk, unter den 3 genannten Regisseuren, am Schwersten fällt. Dies liegt zum einen natürlich an der Wahl seiner Filmsujets, die sich allesamt eher mit unspektakulären alltäglichen Familiengeschichten befassen. Aber dieser Umstand lässt sich gerade auch mit der hoch gelobten Stilistik Ozus begründen, die die modernen Sehgewohnheiten, etwa hektisches Schnittgewitter und frei im Raum herumwirbelnde Wackelkameras, geradezu konterkariert. Ozus Kamera wirkt statisch, bleibt auf der niedrigen Ebene einer sitzenden Person, so dass der Zuschauer die Perspektive eines stumm im Raum anwesenden Beobachters einnimmt, als sei er ein Ujigami, der die Geschicke der Hausbewohner verfolgt. Näheres zu seiner Stilistik  wurde aber schon anderswo besser und ausführlicher geschrieben.


Bisher kannte ich nur Ozus Nachkriegswerk, in dem sein Personalstil schon einen hohen Grad an Perfektion erreicht hatte. Hier ist besonders BANSHUN (1949) und TOKYO MONOGATARI (1953) hervorzuheben, die mich in ihrer ruhigen Ästhetik und strengen Stilisierung beeindruckten. Deshalb respektierte ich Ozu zwar als einen der großen japanischen Regisseure, ohne ihm aber dieselbe Begeisterung entgegenzubringen, wie ich sie seit meinem aller ersten seiner im TV gesehenen Filme (war es RASHOMON, UZALA oder DIE SIEBEN SAMURAI? Mein kindliches Erinnerungsvermögen trügt da etwas.) Kurosawa gegenüber empfinde. 


Ohne rechten Enthusiasmus, mit der Disziplin eines dem japanischen Kinos verpflichteten Cineasten, schaute ich mir also ICH WURDE GEBOREN, ABER… an, meinen bisher frühesten und einzigen Vorkriegs-Ozu. Und, was soll ich sagen, der Film schaffte es mich vollkommen zu überraschen. Ozu transportierte hier einen Humor und genau getimten Witz, wie ich es ihm, angesichts seines ernsten Alterswerks, nie und nimmer zugetraut hätte. Natürlich finden sich auch schon hier typische Elemente seiner Nachkriegsfilme, die offenen Sichtachsen innerhalb der japanischen Häuser, die personalisierte Kameraposition, doch demonstriert er noch eine spielerische Experimentierfreude, zeigt dynamische Kamerafahrten (z.B. aus der Sicht eines Radfahrers), dass ich mich mit einem Blick auf die DVD-Hülle nochmals versichern musste einen Ozu-Film eingelegt zu haben. Eine weitere Besonderheit ist die Tatsache, dass dieses Werk  aus dem Jahr 1932 noch ohne Ton abgefilmt wurde. Dabei wirkt der Film ansonsten sehr modern, vor allem in seiner lebendigen frischen Figurenzeichnung fühlte ich mich zuweilen an den Neorealismus des italienischen Nachkriegskinos erinnert, weit entfernt von dem Klischee des übertrieben theatralischen Stummfilms. 


Ozu drehte seinen ersten Tonfilm erst 1936, als in Amerika und Europa schon längst die Ära des Stummfilms zu Grabe getragen worden war. Die Gründe für diese Verweigerung der neuen Technik liegen aber nicht (ausschließlich) in einer konservativen künstlerischen Einstellung Ozus oder technischer Rückständigkeit der japanischen Filmindustrie begründet, sondern in der beim Publikum besonders beliebten Tradition des Filmerzählens, die den Rang einer eigenen Kunstform annahm. Neben der Leinwand standen professionelle Benshi, die die Handlung in ausdruckstarker Weise wieder gaben, die Schauspieler Live synchronisierten. Zu Beginn des Tonfilmzeitalters gab es in Japan gemeinsame Proteste von den in eigenen Gewerkschaften organisierten Filmpianisten und Erzählern. Ein hoffnungsloses Unterfangen. In Reaktion auf die Streiks stellten die Kinos ihre Technik einfach schneller auf den Tonfilm um (Akira Kurosawas arbeitslos gewordener älterer Bruder Heigo, ein bekannter Benshi, beging daraufhin 1933 Selbstmord.) 


Der Angestellte Yoshii zieht mit seiner Familie in einen Außenbezirk von Tokyo. Er erhofft sich durch die größere Nähe zu Arbeitsplatz und Direktor berufliche Vorteile. Seine beiden Söhne, Ryoichi und Keiji (ca.10-12 Jahre alt), müssen sich in dem neuen Viertel erst zurechtfinden. Sie geraten rasch in Streit mit einer Bande von Nachbarskindern. Nachdem sie anfänglich vergeblich versuchen dem Problem aus dem Weg zu gehen, sie schwänzen sogar die Schule, gelingt es ihnen den groben Anführer mit Hilfe des jungen Milchmanns zu bezwingen. Von da an sind sie die neuen „Herren“ des Viertels und führen die Schar der Kinder an. Ein Mitglied der Bande ist der Sohn des Direktors der Firma in der ihr Vater arbeitet. So wird auch der neue Freundeskreis der beiden Brüder zur Filmvorstellung eines vom Direktor gedrehten Amateurstreifens eingeladen. Als Ryoichi und Keiji auf der Leinwand  Yoshii entdecken, wie er alberne Grimassen schneidet, um dem Direktor gefällig zu sein, flüchten sie entsetzt nach Hause. Sie schämen sich tief für ihren Vater, der doch zuvor ihr großes Vorbild gewesen war. Wie kann er sich nur vor dem Direktor derart klein machen? Sie treten in einen „Hungerstreik“, da sie nicht von dem schmutzigen Geld ihres Vaters profitieren wollen. Nach einer Nacht wilden Protests gelingt es Yoshii aber das Eis zu brechen. Widerstrebend beginnen die Brüder zu begreifen, dass es im Leben Situationen gibt, in denen man sich Hierarchien unterordnen muss, dass ihr Vater, um seine Familie zu Ernähren, um seinen Söhnen eine bessere Zukunft zu sichern, sogar bereit ist sich offen zu erniedrigen.       


Gerade in der Darstellung des ruppigen Alltages der Kinder, in den vielen humorvollen Details, wie den auf den Köpfen zwischengelagerten "Pausenbroten", dem morbiden "Beerdigungsspiel", der ritualisiert nachträglichen Schließung des "Hosenstalls" und ähnlich liebevollen Einschüben, gewinnt der Film eine mitreißende erzählerische Kraft. Auch die lebendige Figurenzeichnung begeistert mich und beweist Ozus große Menschenkenntnis. Die Charakterisierung der beiden Brüder sticht hier besonders positiv hervor. Ozu verdeutlicht z.B. die klare Rangordnung ihrer Beziehung, indem er den Jüngeren, bis hin zur Parodie, ständig das Verhalten des ein oder zwei Jahre älteren Bruders kopieren lässt.  


Ozu gibt der Handlung, durch die freiwillige Erniedrigung des Vaters, eine deutlich sozialkritische Note, legt die starre Gesellschaftsstruktur offen, die den Einzelnen zwingt sich in einer Hierarchie einzuordnen. Dabei geht seine Kritik aber nicht soweit, dass er etwa radikal revolutionäre Lösungen einfordern würde. Im Gegenteil, die im Streit mit den Nachbarskindern ausgeübte Gewalt, wird in der Welt der Erwachsenen als mögliche Konfliktlösung bewusst verneint. Gewalt ist nach Ozus Auffassung kein Mittel die kleinen und großen Ungerechtigkeiten zu ändern. Er entwirft stattdessen, durch das Propagieren von Bildung als einzige adäquate Lösung, ein auch heute noch geradezu klassisches sozialdemokratisches Modell. Aufstieg durch Bildung, die Überwindung gesellschaftlicher Schranken durch den gemeinsamen Schulbesuch von Kindern aus allen Schichten. In so fern ist ICH WURDE GEBOREN, ABER… in seiner Botschaft geradezu erschreckend modern.


Fazit:
ICH WURDE GEBOREN, ABER... ist mit Abstand mein neuer Lieblings-Ozu. Vor allem die lebendige Charakterzeichnung und der erfrischende Humor des Filmes haben mich begeistert. Von meiner ursprünglichen Skepsis gründlich geheilt, werde ich mich nun auf die Suche nach weiteren Ozu-Werken der Vorkriegszeit begeben. Schade, dass ein Großteil seines Frühwerkes als verschollen gelten muss. 


Titel: Umarete wa mita keredo - Ich wurde geboren, aber...
Regie:Yasujiro Ozu
Studio: Shochiku Films Ltd.
Entstehungsjahr: 1932
Länge: 100 Minuten
DVD: Trigon-Film R2
Untertitel: Deutsch

Neukomponierte Begleitmusik: Christoph Baumann, Isa Wiss, Jacques Siron, Dieter Ulrich 

8 Kommentare:

  1. Du hast mir als Stummfilmfan mit Deinem schönen Text grosse Lust gemacht, diesen Film zu sehen.
    Zudem: Ich wusste bislang nichts von der Existenz der Benshi, ein sehr interessanter Hinweis! Ich hatte mich nur schon über den Umstand gewundert, dass in Japan noch in den Dreissigerjahren Stummfilme entstanden.

    Weitere Ozu-Stummfilme findest Du übrigens in der Box "Silent Ozu", die im Rahmen der Serie "Eclipse" der Criterion Collection erschienen ist. "Umarete..." ist dort zwar auch dabei, dafür noch zwei weitere.
    http://www.criterion.com/boxsets/532-eclipse-series-10-silent-ozuthree-family-comedies?q=autocomplete

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  2. Danke für den Tipp! Die Criterion-Box landet in meinen Wunschkorb.

    UMARETE... lohnt sich auf jeden Fall, nicht nur für Stummfilm-Fans. Also ran an den "Feind"!

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  3. @gabelingeber:
    DVDs von Stummfilmen mit Benshi, darunter zweieinhalb von Mizoguchi, gibt es hier, allerdings zu exorbitanten Preisen. Neben den Benshi gab es einen zweiten Grund, warum der Tonfilm in Japan so spät eingeführt wurde: Die Studios wollten erst mal abwarten und selbst ein ausgereiftes System entwickeln. Um 1930 war die Situation in Hollywood und Europa ja ziemlich unübersichtlich. Es gab nebeneinander Nadelton (Vitaphone, bei Warner Brothers) und diverse Lichttonverfahren (Movietone bei Fox, Western Electric bei den meisten Hollywood-Studios, Tri-Ergon bei Tobis-Klangfilm und Ufa, und RKO wurde eigens gegründet, weil deren Mutterkonzern RCA auch noch ein Tonsystem in den Markt drücken wollte. Da blieb man in Japan erst mal skeptisch, und die Benshi nahmen den übermächtigen Publikumsdruck zum Tonfilm, der in anderen Ländern herrschte, von den Studios.

    @Marald:
    Danke, schöner Text. Ich kenne den Film nicht, aber vier andere von Ozus Stummfilmen, von denen "Passing Fancy" und "An Inn in Tokyo" inhaltlich und (deiner Beschreibung nach) auch stilistisch mit "Ich wurde geboren, aber..." verwandt sind. Den Screenshots nach wurden auch alle drei an ähnlichen Schauplätzen gedreht. Die anderen beiden spielen jedenfalls in etwas trostlosen Außenbezirken von Tokyo, in denen sich Bretterbuden mit Strommasten und Industrieanlagen abwechseln. Deine Anmerkung über die Nähe zum Neorealismus passt auch auf die anderen beiden Filme, insbesondere "An Inn in Tokyo". Der Held Kihachi ist auch hier ein alleinerziehender Vater mit zwei Söhnen, allerdings arbeitslos. In seinen verzweifelten Aktionen erinnert er ein bisschen an den Helden von "Fahrraddiebe". Kihachi ist auch der Held von "Passing Fancy" und weiteren Stummfilmen Ozus. Allerdings gibt es zwischen den einzelnen Filmen biographische Brüche, insbesondere zwischen "A Story of Floating Weeds" (mein dritter Ozu-Stummfilm) und den anderen Teilen. Von einer durchgehenden Reihe à la Tora-san kann man also nicht sprechen. (Der Vollständigkeit halber: Mein vierter früher Ozu ist "Dragnet Girl", in dem Kinuyo Tanaka eine flotte Ganovenbraut spielt und mit einer Pistole auf einen Menschen schießt - in einem Ozu-Film eigentlich ein Unding.)

    Was die Erhaltungsrate von Ozus Frühwerken betrifft, steht er ja noch einigermaßen gut da. Von seinen 34 Stummfilmen (wenn ich mich nicht verzählt habe) gibt es mindestens 8 auf DVD (ob weitere überlebt haben, weiß ich nicht). Wenn man bedenkt, dass von allen japanischen Filmen, die bis Kriegsende 1945 entstanden, 90% verloren sind, ist das eine erkleckliche Quote. Mizoguchi hat ca. 60 Stummfilme gedreht, und ich weiß nur von zweien, die vollständig erhalten sind. Von Sadao Yamanakas 23 Filmen (plus 2 als Co-Regisseur) sind überhaupt nur 3 erhalten.

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  4. @Manfred Polak

    Vielen Dank für deinen fachkundigen Kommentar. Ich beginne ja jetzt erst den frühen japanischen Film zu entdecken, da mich die teuren Überseeimporte bisher immer abgeschreckt hatten. Ich werde aber am Ball bleiben und auf eine günstige Gelegenheit warten, diesbezüglich meine Sammlung aufzustocken. Dieser stumme Ozu hat in mir eindeutig ganz neue Begierden geweckt.
    Die von dir genannten Filme landen also erst einmal auf meiner TO WATCH Liste.

    Bezüglich des Tonformatechaos:
    Interessanter Hinweis, bei der Einführung des Tonfilms handelt es sich also um einen der ersten Formatkriege der Unterhaltungsfilmindustrie (vergleiche Video2000 vs. Beta vs. VHS).

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  5. Die frühen Ozus in der Eclipse-Box sind gerade günstig bei Barnes & Noble zu haben (ca. 15$ billiger als derzeit bei Amazon), denn dort gibt es wieder mal eine der inzwischen schon traditionellen Aktionen, bei der alle Criterion-Produkte zum halben Preis angeboten werden.

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  6. Dasselbe wie Manfred wollte ich Dir auch gerade mitteilen....

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  7. Jonathan Rosenbaum hat in seinem Blog gerade einen Text von 2005 über Ozu-Stummfilme wiederveröffentlicht, in dem ein paar interessante Dinge stehen. Daraus geht auch hervor, dass noch mehr als die von mir schon erwähnten 8 Stummfilme überlebt haben. Vielleicht dürfen wir uns in der Zukunft noch auf mehr DVDs davon freuen.

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  8. @ Manfred Polak

    Der Blog von Rosenbaum ist wirklich interessant. Mal sehen ob er recht behält. Bis dahin muss ich mir aber erst die Übrigen, schon erhältlichen Ozus besorgen.

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