- Widmung der symphonischen Dichtung "Tapiola" -

Da dehnen sich des Westlands Wälder, uralt, geheimnisvoll in wilden Träumen, Waldgeister weben in dem Dunkel.

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Montag, 13. September 2010

MANEN GANNEN NO FUTOBORU - Der stumme Schrei


Die Subjektivität von Erinnerung

Ein rot bemalter Schädel, eine Gurke an unaussprechlichem Ort, hockend in der Grube den stinkenden Straßenköter im Arm, den bitteren Geschmack von Whisky zwischen den Zähnen...

Kenzaburo Ōe ist einer der bekanntesten Vertreter der japanischen Nachkriegsliteratur des 20. Jahrhundert. Nach Kawabata war er erst der zweite Schriftsteller Japans, der mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sein international bekanntestes Werk ist vermutlich EINE PERSÖNLICHE ERFAHRUNG. Dieser halbbiographische Roman über die Geburt eines behinderten Sohnes und der daraus resultierenden Überforderung des jungen Vaters, konnte mich aber bei weitem nicht derart in den Bann ziehen, wie es DER STUMME SCHREI vermochte. Bevor ich dieses Buch kannte begeisterte mich Ōe vor allem durch seine Frühwerke (DER FANG, REIßT DIE KNOSPEN AB) die sich mit menschlichen Schicksalen rund um die katastrophale Niederlage Japans 1945 auseinandersetzen. Aber der absolute Höhepunkt seines Schaffens und eines meiner japanischen Lieblingsbücher, ist meiner unbescheidenen Lesermeinung nach die Geschichte zweier Brüder, eine Reise durch die Subjektivität der Wahrnehmung, das zerstörerische Nachspüren verzerrter Erinnerung, Manen gannen no Futobōru (DER STUMME SCHREI oder auch "Die Brüder Nedokoro"). 

Das Gedächtnis lügt, erschafft sich haarsträubende Wolkenkuckucksheime, fernab jedweder Realität. Diese neurophysiologische Tatsache bildet den Ausgangspunkt dieser Tragödie.  
Zwei Brüder versuchen sich an ihre gemeinsame Kindheit in einem abgelegen Bergdorf zu erinnern, gelangen dabei jedoch zu diametral entgegen gesetzten Ergebnissen. Der Ältere betrachtet die vergangenen Ereignisse absolut nüchtern, desillusioniert, wie man ein aufgespießtes Insekt in einem verstaubten Schaukasten betrachten würde. Der Jüngere hingegen verliert sich in einer euphorisch überhöhten, heroisch verklärten Traumwelt, klammert sich in seiner Haltlosigkeit, im Wertezerfall Nachkriegsjapans treibend, an eine idealisierte Vergangenheit, um die Leere des "Jetzt" zu überspielen. Von enttäuschten Hoffnungen gequält, in der Angst, ja der "Gewissheit" sein Leben verpfuscht zu haben, suhlt sich der Ältere der Beiden in Selbstmitleid. Bei der Ankunft im Dorf ihrer Kindheit überlässt er dem hitzigen Wahn seines Bruders die Initiative, beschränkt sich phlegmatisch auf zynische Kommentare, auf die Rolle des spöttischen Beobachters. Letztendlich sieht er tatenlos zu wie der jüngere Bruder in die Katastrophe taumelt.
Ist dies also eine Parabel auf die lähmende Sprachlosigkeit der Intellektuellen gegenüber den Katastrophen des (Neo-)Faschismus, Kommunismus, Kapitalismus und sonstiger Ideologien oder doch "nur" die Geschichte zweier ungleicher Brüder gefangen in der Subjektivität ihrer Erinnerung? Die Geschichte verweigerter Konsequenzen?

DER STUMME SCHREI hat eine starke Botschaft und wirkt mit seiner antiideologischen Haltung noch genauso aktuell wie vor 45 Jahren, denn je mehr die Erinnerungen an die gelebten utopistischen Wahnideen des 20. Jahrhunderts verblassen, desto größer erscheint die Gefahr die Schrecken der Vergangenheit zu verklären. In meinen Augen ist DER STUMME SCHREI daher Ōes wichtigster Roman geblieben, eine ständige Mahnung nicht schweigend daneben zu stehen, wenn der ideologische Irrsinn Wiedergeburt feiert.

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