- Widmung der symphonischen Dichtung "Tapiola" -

Da dehnen sich des Westlands Wälder, uralt, geheimnisvoll in wilden Träumen, Waldgeister weben in dem Dunkel.

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Sonntag, 26. September 2010

KÜRZLICH GESEHEN…

AN ACTOR’S REVENGE
Kon Ichikawa (1962) 7,5/10

Stilistisch beeindruckendes Revenge-Movie, dessen genreübliche Handlung der prachtvollen Inszenierung nicht zu folgen vermag.

THE BAD SLEEP WELL 
Akira Kurosawa (1960) 9,5/10

Ein weiteres Meisterwerk Kurosawas, dessen Eingangsszene (die Hochzeit!) zu dem inszenatorisch Besten gehört, dass das japanische Kino überhaupt zu bieten hat. Neben IKIRU mein neuer Lieblings Gendai-geki von Kurosawa.

GONZA THE SPEARMAN 
Masahiro Shinoda (1986) 8/10

GONZA wirkt wie aus der Zeit gefallen, ein mit 20 jähriger Verspätung gedrehter Nachzügler des japanischen 60er Jahre Jidai-geki. Stilistisch großartig wie in Shinodas besten Tagen.

FUNERAL PARADE OF ROSES 
Toshio Matsumoto (1969) 9/10

Ein avantgardistischer Experimentalfilm, der Spielszenen mit Interviewpassagen mischt und vor keiner noch so schrägen psychedelischen Einlage zurückschreckt. Ein wahrhaft orgiastischer visueller Rausch. Als heterosexueller Mann sollte man(n) jedoch, um diesen Trip in die Tokioer Schwulenszene „genießen“ zu können, an keiner Homophobie leiden.
BANSHUN – SPÄTER FRÜHLING 
Yasujiro Ozu (1949) 8/10

Inszenatorisch zaubert hier Ozu mal wieder einen Leckerbissen auf die Leinwand, mit seiner bedächtigen Erzählweise (boshaft könnte man fast "phlegmatisch" sagen) und seinen gewählten Alltags-Sujets kann er mich aber nicht ganz so begeistern, wie die weitaus dynamischeren Kurosawa und Mizoguchi.  

GION BAYASHI – DIE FESTMUSIK VON GION 
Kenji Mizoguchi (1953) 9/10

Das Leiden der Frauen an der chauvinistischen Männerwelt ist DAS Thema Mizoguchis. Hier entzaubert er die verlogene Welt der Geishas, deren Alltag tatsächlich weitaus weniger ästhetisch und künstlerisch ist, als es der positive Rassismus des Westens glauben will. Ein auch stilistisch großartiger Mizoguchi!

AKASEN CHITAI – DIE STRASSE DER SCHANDE 
Kenji Mizoguchi (1956) 8/10

Ein ähnliches Thema wie GION BAYASHI, hier im Milieu der echten Prostitution, die das Feigenblatt der GEISHA-Kultur längst abgelegt hat. Mizoguchis letzter Film der einige großartige Szenen beinhaltet, aber insgesamt nicht ganz die Qualität seiner älteren Meisterwerke erreicht (vor allem LIFE OF OHARU).  
 
EVANGELION 1.11 
Hideaki Anno (2007) 7/10

Der Reboot des Evangelion-Franchises bietet für Fans der bahnbrechenden Serie inhaltlich kaum neues. Die bekannte Handlung der ersten drei Folgen wurde im Wesentlichen gestrafft zusammen geschnitten und technisch (durchaus beeindruckend) aufpoliert.

EVANGELION 2.22 
Hideaki Anno (2009) 8/10

Hier werden erstmals deutliche Unterschiede im Handlungsverlauf und der Charakterentwicklung deutlich (vor allem bei Asuka und Rei). Ich bin mir noch nicht schlüssig ob mir das gefällt, es wirkt jedoch insgesamt weitaus frischer als beim ersten Teil.
Die Qualität der Animation ist selbstverständlich wiederum beeindruckend gesteigert worden.

DER FANTASTISCHE MR. FOX 
Wes Anderson (2009) 9/10

Ein Puppen-Stop-Motion-Film der in seinem wunderbar altmodischen Charme jeden echten Animations-Freund begeistern muss. Auch die Dialoge und Charaktere können auf ganzer Linie überzeugen. Einfach toll!

Samstag, 25. September 2010

NOBI - Feuer im Grasland


„Doch vielleicht wollte ich sie wirklich essen – 
ich, in meinem früheren Leben ein gefallener Engel mit einem Gewehr in der Hand -, um sie zu strafen. Vielleicht war dies mein Wunsch, als ich mich ihnen angesichts der Graslandfeuer unbedingt nähern wollte.“

Ooka Shohei (1909-1988)

Ōoka Shōhei war 35 Jahre alt, als sein bis dahin friedvolles Leben einen dramatischen Wendung erfuhr. Geboren 1909 in Ushigome (Tokio) wuchs er behütet in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie auf. Seine Eltern förderten schon früh seine musische Begabung und brachten ihn mit europäischer Literatur in Kontakt. In der Schule erlernte er die französische Sprache und beherrschte sie schließlich so gut, dass er nach seinem Literaturstudium als hauptberuflicher Übersetzer arbeiten konnte. In seiner Freizeit übertrug er die Werke Stendhals ins Japanische. Er pflegte zwar Kontakt zur japanischen Literaturszene, ohne aber selbst als Autor in Erscheinung zu treten. Und daran hätte sich vermutlich auch nichts geändert, hätten die geschichtlichen Ereignisse seine friedliche bürgerliche Existenz nicht aus den Angeln gehoben.

Showa-Tenno (1930er Jahre)

Neben der weltoffenen Neugier des aufblühenden japanischen Bürgertums auf das westliche Kulturleben, hatten die Meiji-Reformen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert auch weniger friedvolle Folgen. Aggressiv wurde die industrielle Revolution forciert, um den technischen Rückstand gegenüber den imperialistischen Großmächten einzuholen. Das Gefühl der militärischen Ohnmacht saß wie ein Stachel im Selbstbewusstsein der japanischen Eliten, so wurde alles daran gesetzt eine schlagfertige Armee aufzubauen, die sich den westlichen Pendants mindestens als ebenbürtig  erwies. Das zaristische Russland war 1904 das erste europäische Land, dass den Erfolg der japanischen Bemühungen zu spüren bekam. Japan übernahm das aus dem Dünkel eines zivilisatorischen Überlegenheitsgefühls erwachsene imperialistische Sendungsbewusstsein des Westens und verband es mit der damals populären Idee des Panasianismus, die Südost- und Zentralasien, unter japanischer Führung, vom europäischen Joch befreien sollte. Taiwan (1895) und Korea (1910) waren die ersten Staaten die in den Genuss dieser "selbstlosen" japanischen "Befreiungsideologie" kamen. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts richtete sich Japans Hunger auf das durch 20 Jahre Bürgerkrieg gelähmte China. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen wurde 1931 die Mandschurei besetzt. 1937 begann schließlich auf Druck der Armeeführung, die mittlerweile die zivile Regierung zu einem reinen Handlanger degradiert hatte, der japanisch-chinesische Krieg. Nach anfänglichen Erfolgen kam der Vormarsch jedoch ins Stocken. Für diesen Rückschlag machte das japanische Oberkommando nicht zuletzt westliche Militärhilfe und durch den amerikanischen Handelsboykott bedingte eigene Nachschubprobleme verantwortlich. Die militärische Logik verlangte Gegenmaßnamen. Mit dem Angriff auf die USA 1941 begann der unausweichliche Niedergang des japanischen Imperialismus. Zunächst konnte Japan zwar zahlreiche südostasiatische Staaten besetzen und die durch den europäischen Kriegsschauplatz gebundenen westlichen Kolonialmächte vertreiben. 1942 wurden selbst die auf den Philippinen abgeschnitten operierenden US-Streitkräfte vernichtend geschlagen. Doch spätestens 1943 erwiesen sich diese Siege als Selbsttäuschung und die japanische Armee wurde durch die amerikanische Übermacht unerbittlich in die Defensive gedrängt. In seiner Verzweiflung folgte Japans Militärdiktatur dem Vorbild des deutschen Reiches und totalisierte die Kriegsführung in einem zuvor nicht vorstellbaren Ausmaß. Bis dahin vom Kriegsdienst verschonte Zivilisten wurden von der Armee eingezogen und schlecht ausgerüstet und ausgebildet in sinnlosen Abwehrschlachten verheizt. 1944 traf es schließlich auch den für den Militärdienst eigentlich völlig untauglichen Literaten Ōoka Shōhei, der zur Verteidigung der philippinischen Insel Leyte für das Vaterland seine Pflicht erfüllen sollte. Den amerikanischen Angreifern hoffnungslos unterlegen, durch Hunger und Krankheit ausgezehrt, begannen sich schon bald die militärischen Strukturen der Japaner aufzulösen. Die versprengten Einheiten kämpften nur noch um das eigene Überleben und verloren dabei jeden Rest von Menschlichkeit. Verschiedenen Berichten zufolge kam es schließlich auch zu Fällen des ultimativen Zivilisationsbruchs, zum Kannibalismus. Shōhei überlebte die Kämpfe wie durch ein Wunder und geriet 1945 in Kriegsgefangenschaft. 

LEYTE (1944)

Im Nachkriegsjapan fand er sich anfänglich nur schwer zurecht, zu tief saß die innere Erschütterung über das Erlebte, zu tief saß seine Scham überlebt und nicht, wie es die kaiserliche Propaganda verlangte, ehrenhaft gefallen zu sein. Irritiert registrierte er wie rasch die japanische Gesellschaft die Kriegserfahrungen verdrängte ohne daraus scheinbar auch nur die geringsten Lehren zu ziehen. Ansätze einer öffentlichen Diskussion über die eigene Kriegsschuld wurden fast unmittelbar durch das Gedenken an die Opfer der amerikanischen Luftangriffe und Atombombenabwürfe erstickt. Angeregt durch seinen Mentor Hideo Kobayashi begann Shōhei schließlich über seine Kriegserfahrungen zu schreiben und veröffentlichte eine erste Sammlung von Kurzgeschichten (FURYOKI 1948). Der Erfolg ermutigte ihn dazu seine literarischen Bemühungen fortzusetzen. 1951 veröffentlichte er sein international bekanntestes Werk, NOBI - FEUER IM GRASLAND, in dem er seine persönlichen Erlebnisse wohl am Eindringlichsten zu einer Reise in die menschlichen Abgründe verdichten konnte. Ein Abstieg ins Herz der Finsternis, vor dessen realem Grauen selbst Joseph Conrads Roman wie von Sonne durchflutet erscheinen muss.

Überreste eines japanischen Soldaten (2008)

Tamura, ein in einer psychatrischen Klinik einsitzender Patient, soll auf anraten des behandelnden Arztes seine Kriegserlebnisse aufschreiben, in deren Verdrängung er einen wesentlichen Grund für sein Nervenleiden sieht. Mühsam erinnert er die Ereignisse der Schlacht von Leyte, an der er als einfacher Soldat teilgenommen hatte.  1945, die japanisch kaiserliche Armee ist längst in Selbstauflösung begriffen, jeder Stolz im Angesicht der totalen Niederlage vergessen. Aufgrund seiner Tuberkulose als nutzloser Esser von den eigenen Kameraden verstoßen, stolpert Tamura durch die im Chaos versinkende tropische Landschaft, ständig auf der Flucht vor  einem unsichtbaren Feind, kommt er an den Dörfern der Filipinos, an versprengten japanischen Einheiten vorbei, die nur noch ums nackte Leben kämpfen. Tamura hatte schreckliche Dinge getan, hatte getötet um zu überleben, unbewaffnete Zivilisten und Kameraden, doch einen letzten Kern seiner Menschlichkeit wollte er sich um jeden Preis bewahren. Als er vor Hunger halb wahnsinnig ein verlassenes Dorf betritt, nur noch von Fliegenschwärmen und verfaulenden Leichen japanischer Soldaten bevölkert, findet er Anzeichen für Kannibalismus. Von Grauen erfüllt verlässt er fluchtartig diesen Ort des Todes. Kurz darauf trifft er auf eine kleine Gruppe überlebender Landsleute, die es irgendwie geschafft haben sich in diesem lebensfeindlichen Tropenparadies eine Nahrungsquelle zu erschließen. Sie bieten ihm etwas von ihrem Vorrat an getrocknetem "Affenfleisch" an und schon bald wird er eingeladen sie bei ihrer "Affenjagd" zu begleiten. Als Tamura bewusst wird auf was hier wirklich Jagd gemacht wird, ist es fast schon zu spät, jede Menschlichkeit beinahe in ihm verdorrt. Irgendwie überlebt Tamura die Wirren der letzten Kriegstage, erinnert sich in der Klinik an die Rauchsäulen auf den philippinischen Ebenen, die ihn drohend mit ihren Flammen umkreisen. In die schwarze Sonne blickend, geht er auf die Leichenfeuer zu und das Lachen der Toten folgt ihm nach.   

NOBI - Ichikawa Kon (1959)

Ichikawa Kon verfilmte den wohl besten japanischen Roman über die Schrecken des Krieges schon 1959 in eindringlichen Bildern. Die unmittelbar radikale Wirkung von Shōheis einfacher, von bitterer Ironie durchzogener, nüchtern beobachtenden Sprache, erreicht der Film dennoch zu keinem Zeitpunkt. Die existenzialistische Grenzerfahrung FEUER IM GRASLAND sollte in jedem Bücheregal direkt neben Remarques IM WESTEN NICHTS NEUES seinen Platz finden, ein erschütterndes Zeugnis der Weltliteratur über die Auflösung des menschlichen Nukleus im Angesicht unfassbaren Grauens.  

Samstag, 18. September 2010

Und nun zu etwas vollkommen anderem...


Neben brillanten Filmen, tiefgründiger Literatur und einer vielschichtigen Comic-Kultur, bietet die japanische Postmoderne auch das ein oder andere musikalische Glanzlicht. Die Geschmäcker sind diesbezüglich natürlich äußerst variabel...


Japan-Elektro-Pop for ever!



Y.M.O. und P-Model gelten als Vorreiter des japanischen Elektro-Pops/New Wave. Was man auch immer von ihren musikalischen Qualitäten halten mag, sind sie auf ihrem Gebiet, auch über Japan hinaus, Pioniere der Popgeschichte.

Shiina Ringo



Wer Shiina Ringos rauchige jazzige Stimme nicht mag, dem ist nicht mehr zu helfen... ;-)

Toru Takemitsu

Toru Takemitsu gehörte zu den ganz Großen der japanischen Avantgarde-Musik. Neben seiner Tätigkeit als Filmkomponist, gilt er als vielleicht bedeutendster Vertreter der japanischen musikalischen Postmoderne des 20. Jahrhundert. Cineasten dürfte vor allem sein nervenaufreibender Sondtrack zu Teshigaharas DIE FRAU IN DEN DÜNEN und die düstere Untermahlung zu Kurosawas RAN in Erinnerung bleiben.

Joe Hisaishi



Joe Hiashi ist wohl der wichtigste japanische Filmkomponist seiner Generation. Neben seinem viel beachteten Zusammenwirken mit Studio GHIBLI, arbeitete er auch erfolgreich mit Regisseuren wie Takeshi Kitano. Sein unverwechselbarer musikalischer Stil ist äußerst eingängig, weshalb seine Werke ihre Wirkung gleichermaßen im Konzert- und Kinosaal entfalten.

Ryuichi Sakamoto



Nach der Auflösung des Y.M.O. versuchte sich Sakamoto erfolgreich als Solokünstler. 1983 schuf er mit dem eingängigen Elektro-Soundtrack zu MERRY CHRISTMAS, MR. LAWRENCE seine erste Filmmusik, der weitere Folgen sollten. Der Höhepunkt dieser Arbeit war unzweifelhaft sein Beitrag zum Soundtrack von DER LETZTE KAISER.
 
Susumu Hirasawa




Hirasawa galt als kreativer Kopf der Progressive-Rock/Elektro-Popband P-MODEL. Nach deren Auflösung arbeitet er erfolgreich als Solokünstler und versucht sich auch als Komponist von Filmsoundtracks. Die manische Vitalität seiner Musik prägt vor allem die Animemeisterwerke SATOSHI KONS.


Yumi Matsutōya



Yumi Matsutōya ist eine bekannte Sängerin und Songschreiberin, die seit beginn der siebziger Jahre zahlreiche Hits in den japanischen Charts landen konnte. Mit ca. 42 Millionen verkauften Tonträgern gehört sie bis heute zu den kommerziell erfolgreichsten Künstlerinnen der japanischen Popgeschichte. Ghibli-Fans ist sie durch den schmissigen im Big-Band/Rock'n-Roll-Stil der Fünfziger gehaltenen Song MESSAGE OF ROUGE bekannt, der als Titellied von KIKIS KLEINER LIEFERSERVICE für Feel-Good-Atmosphäre sorgte. Vor ihrer Heirat 1976 trat sie unter dem Namen Yumi Arai auf.

Freitag, 17. September 2010

RYOJU - Das Jagdgewehr


"Eine große Matrosenpfeife im Mund, 
läßt er Setter-Hunde vor sich her laufen,
stapft mit hohen Stiefeln über die Eiszapfen der Erde 
und steigt auf engem Pfad durch das Gestrüpp
hinauf zum Frühwinterlichen Amagi-Berg." 

Yasushi Inoue (1907-1991)

- Eine melancholische Miniatur -

DAS JAGDGEWEHR (1950) gehört zu den mich am tiefsten bewegenden Werken Inoue Yasushis. Nach meiner Überzeugung ein Muss in jeder gut geordneten Japan-Sektion heimischer Bücherregale. Hinter dem irreführenden Titel verbirgt sich eine kurze aber süße literarische Kostbarkeit, eine melancholische Liebesgeschichte, erzählt in drei Briefen aus drei verschiedenen Blickwinkeln. DAS JAGDGEWEHR ist in vielerlei Hinsicht ein typischer Vertreter des japanischen Romans der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Nach der erzwungenen Beendung der kulturellen Isolation stürzte sich das japanische Bildungsbürgertum hungrig auf alles Westliche, ob in der Mode, der Musik, den bildenden Künsten oder der Literatur. In wenigen Jahrzehnten versuchten sie sich, fast in Zeitraffer, Jahrhunderte europäischer Kultur anzueignen. Viele westliche literarische Strömungen erreichten Japan so erst mit starker zeitlicher Verzögerung, weshalb sich dort der Briefroman ungebrochener Beliebtheit erfreute, als er in Europa schon lange wieder aus der Mode geraten war (siehe z.B. DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER, Johann Wolfgang von Goethe, 1774). Auffällig ist auch der von japanischen Autoren gerne verwendete Kniff des wiederholten Perspektivwechsels, das mehrmalige Erzählen ein und derselben Handlung aus verschiedenen Blickwinkeln. Ein weiteres bekanntes Beispiel ist hierfür Akutagawas Erzählung IM GEBÜSCH (1922), eine der Vorlagen zu Kurosawas RASHOMON (1950).

Das in einer Jagdzeitschrift veröffentlichte Gedicht DAS JAGDGEWEHR veranlasst einen Leser, der sich in den wenigen Zeilen in seiner Einsamkeit treffend beschrieben glaubt, dem Autoren 3 Briefe zu senden, 3 Briefe die von einer verzweifelten Liebe berichten. 
Eine junge Frau entdeckt im Nachlass ihrer Mutter ein Tagebuch, das sie nach kurzem Zögern zu lesen beginnt. Völlig überraschend findet sie dort eine Jahrzehnte währende Affäre beschrieben. Dieser Schock lässt das idealisierte Bild der Mutter zerbrechen. In der Vorstellung der Tochter war sie, erst recht nach der Trennung vom Vater, stets eine keusch lebende Heilige, ein A-sexuelles Wesen. Sie ahnte nichts von der schon während der Ehe mit dem Vater beginnenden Liebesbeziehung, die auch nach der Scheidung im Schatten verborgen blieb, verborgen bleiben musste, denn der Liebhaber war ebenfalls verheiratet und wagte es nicht seine eigene emotional schwache Frau zu verlassen. Die Tragik der unerfüllbaren, da durch eigene und gesellschaftliche, emotionale und moralische Schranken geächteten Liebe, hinterlässt eine wohlige Trauer und der Leser bedauert, dass diese schmerzhaft zarte Köstlichkeit schon so schnell zu Ende ist.

Natürlich balanciert die Handlung auf einem schmalen Grat, ständig bedroht durch die Untiefen des Kitsches. Dass der Roman letztlich nicht abstürzt, liegt an der ausgefeilten Stilistik Inoues. Doch auch dies macht DAS JAGDGEWEHR zu einem in jeder Hinsicht japanischem Werk. Der Hang japanischer Kultur zu Sentimentalität, Rührseligkeit und Theatralik ist schließlich geradezu legendär. DAS JAGDGEWEHR wurde schon 1954, wie hier nachzulesen, auch ansprechend verfilmt.   

Montag, 13. September 2010

KÜRZLICH GESEHEN...

IN MEMORIAM – Satoshi Kon

Perfect Blue 9/10

SKANDAL – Akira Kurosawa 7/10
Einer der weniger bekannten Gendai-geki Kurosawas – Etwas rührselig und weniger kompakt als gewohnt, aber immer noch ein echter Klassiker.

ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE – Akira Kurosawa 8/10
Ein zu unrecht weniger bekannter Film Kurosawas – Zeitkritisches Kino und ein mehr als passabler Krimi.

DIE BALLADE VON NARAYAMA - Keisuke Kinoshita  8,5/10
Traditionelles Drama – Das No-Theater stand Pate – Beeindruckende Stilübung.

DER FLUSS FUEFUKI - Keisuke Kinoshita 6,5/10
Generationendrama über eine Bauernfamilie, deren Schicksal direkt mit dem Niedergang eines Fürstengeschlechts verknüpft ist.

VALERIE – EINE WOCHE VOLLER WUNDER - Jaromil Jires 9/10
Ein fantasievoller (Alp-)Traum vom Erwachsen werden, vom sexuellen Erwachen, vom Schrecken der Pubertät.

STORY OF A PROSTITUTE – Seijun Suzuki 7,5/10
Ansprechender Unterhaltungsfilm, dessen Antikriegsbotschaft etwas hinter der reißerischen Präsentation verschwindet - Einer der wenigen Filme die das Thema "Trostfrauen" behandelt.  

BAD LIEUTENANT – Werner Herzog 9/10
Siehst du den Leguan? - Doch halt - Schieß noch einmal, seine Seele tanzt noch…  

LETZTES JAHR IN MARIENBAD – Alain Resnais 9/10
Geometrisch Präzise Erinnerungsmetaphysik – Filmisch kühle Architektur – Eine stilistische Ikone des Kinos

IREZUMI – SPIDER TATOO – Yasuzo Masumura 8/10
Unterhaltsames, stilistisch prächtiges Exploitationkino der Spitzenklasse.

RED ANGEL – Yasuzo Masumuras 9/10
Großartiger Klassiker des Exploitationkinos/Antikriegsfilms  - Das Grauen der Hospitäler.

MANEN GANNEN NO FUTOBORU - Der stumme Schrei


Die Subjektivität von Erinnerung

Ein rot bemalter Schädel, eine Gurke an unaussprechlichem Ort, hockend in der Grube den stinkenden Straßenköter im Arm, den bitteren Geschmack von Whisky zwischen den Zähnen...

Kenzaburo Ōe ist einer der bekanntesten Vertreter der japanischen Nachkriegsliteratur des 20. Jahrhundert. Nach Kawabata war er erst der zweite Schriftsteller Japans, der mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sein international bekanntestes Werk ist vermutlich EINE PERSÖNLICHE ERFAHRUNG. Dieser halbbiographische Roman über die Geburt eines behinderten Sohnes und der daraus resultierenden Überforderung des jungen Vaters, konnte mich aber bei weitem nicht derart in den Bann ziehen, wie es DER STUMME SCHREI vermochte. Bevor ich dieses Buch kannte begeisterte mich Ōe vor allem durch seine Frühwerke (DER FANG, REIßT DIE KNOSPEN AB) die sich mit menschlichen Schicksalen rund um die katastrophale Niederlage Japans 1945 auseinandersetzen. Aber der absolute Höhepunkt seines Schaffens und eines meiner japanischen Lieblingsbücher, ist meiner unbescheidenen Lesermeinung nach die Geschichte zweier Brüder, eine Reise durch die Subjektivität der Wahrnehmung, das zerstörerische Nachspüren verzerrter Erinnerung, Manen gannen no Futobōru (DER STUMME SCHREI oder auch "Die Brüder Nedokoro"). 

Das Gedächtnis lügt, erschafft sich haarsträubende Wolkenkuckucksheime, fernab jedweder Realität. Diese neurophysiologische Tatsache bildet den Ausgangspunkt dieser Tragödie.  
Zwei Brüder versuchen sich an ihre gemeinsame Kindheit in einem abgelegen Bergdorf zu erinnern, gelangen dabei jedoch zu diametral entgegen gesetzten Ergebnissen. Der Ältere betrachtet die vergangenen Ereignisse absolut nüchtern, desillusioniert, wie man ein aufgespießtes Insekt in einem verstaubten Schaukasten betrachten würde. Der Jüngere hingegen verliert sich in einer euphorisch überhöhten, heroisch verklärten Traumwelt, klammert sich in seiner Haltlosigkeit, im Wertezerfall Nachkriegsjapans treibend, an eine idealisierte Vergangenheit, um die Leere des "Jetzt" zu überspielen. Von enttäuschten Hoffnungen gequält, in der Angst, ja der "Gewissheit" sein Leben verpfuscht zu haben, suhlt sich der Ältere der Beiden in Selbstmitleid. Bei der Ankunft im Dorf ihrer Kindheit überlässt er dem hitzigen Wahn seines Bruders die Initiative, beschränkt sich phlegmatisch auf zynische Kommentare, auf die Rolle des spöttischen Beobachters. Letztendlich sieht er tatenlos zu wie der jüngere Bruder in die Katastrophe taumelt.
Ist dies also eine Parabel auf die lähmende Sprachlosigkeit der Intellektuellen gegenüber den Katastrophen des (Neo-)Faschismus, Kommunismus, Kapitalismus und sonstiger Ideologien oder doch "nur" die Geschichte zweier ungleicher Brüder gefangen in der Subjektivität ihrer Erinnerung? Die Geschichte verweigerter Konsequenzen?

DER STUMME SCHREI hat eine starke Botschaft und wirkt mit seiner antiideologischen Haltung noch genauso aktuell wie vor 45 Jahren, denn je mehr die Erinnerungen an die gelebten utopistischen Wahnideen des 20. Jahrhunderts verblassen, desto größer erscheint die Gefahr die Schrecken der Vergangenheit zu verklären. In meinen Augen ist DER STUMME SCHREI daher Ōes wichtigster Roman geblieben, eine ständige Mahnung nicht schweigend daneben zu stehen, wenn der ideologische Irrsinn Wiedergeburt feiert.

NINGEN SHIKKAKU - Am Leben gescheitert

DAZAI OSAMU (1909-1948)
Dazai Osamu wurde 1909 in Kanagi (Provinz Aomori) geboren. Als 10. Kind einer wohlhabenden Großfamilie litt er unter einer materiell gesicherten, aber lieblosen Erziehung. Schon früh plagten den musisch begabten Dazai depressive Verstimmungen und er flüchtete sich in düstere schwarzromantische Literatur. 1927 beging sein großes Vorbild, der Schriftsteller Akutagawa Ryūnosuke (bekannt durch seine Erzählung RASHOMON) Selbstmord, ein einschneidendes seinen weitere Lebensweg prägendes Ereignis. Schon ein Jahr später vollzog er den ersten von zahlreichen eigenen Suizidversuchen.

Auch mit dem ab Mitte der dreißiger Jahre einsetzenden literarischen Erfolg besserte sich seine Lebenssituation nicht nachhaltig. Zahlreiche unglückliche Liebschaften, eine gescheiterte Ehe und schwere Morphium-Sucht folgten. Erst in seiner zweiten Ehe schien er vorübergehend Halt zu finden. Wegen körperlicher Gebrechen wurde er zwar nicht zum Wehrdienst eingezogen, sein literarisches Schaffen geriet während des Weltkrieges aber dennoch in eine Krise. In der Nachkriegszeit wurde sein Schreibstil zunehmend düsterer und selbst reflektierter.
In diesen Jahren entstanden seine wichtigsten Werke, Shayō 1947 (DIE SINKENDE SONNE) und der kurz vor seinem Tod 1948 veröffentlichte Roman Ningen shikkaku (GEZEICHNET - wörtlich eher "als Mensch disqualifiziert").

GEZEICHNET ist ein typischer Vertreter der damals in Japan äußerst beliebten pseudobiographischen Ich-Romane (vergleiche Mishimas „Kamen no Kokuhaku“ - GESTÄNDNIS EINER MASKE 1949). Dazai rollt in ihm das "verpfuschte" Leben eines aus reichem Hause stammenden jungen Mannes auf. Die autobiographischen Züge der Hauptfigur werden hier überdeutlich. Der Roman beginnt mit einer menschlichen Bankrotterklärung: "Ich habe ein schändliches Leben geführt. Was menschlich leben heißt, weiß ich nicht." Schon als Kind hat der Ich-Erzähler im verzweifelten Versuch in einer japanischen Großfamilie Aufmerksamkeit zu erlangen, seine durch lieblose Erziehung bedingte Unfähigkeit Gefühle zu empfinden, hinter der Maske des Clown verborgen. Von da an führt er ein Leben in ständiger Verstellung, stets von der Angst besessen, dass seine Fassade, seine fröhliche Grimasse, durchschaut wird. Er geht als Student nach Tokio. Doch statt die Chance des Ausbruchs aus der Enge der Familie zu nutzen, lässt er sich in der Großstadt treiben, verfällt in ein dumpfes Phlegma, verliert sich in geistiger Leere. Die Tage mit Alkohol und Prostituierten verbringend, dämmert er so der Selbstsauslöschung entgegen.

Insgesamt ist dies äußerst destruktive Literatur, die man, um Depressionen zu vermeiden, nicht gerade an grauen Novembertagen lesen sollte. Der Roman strahlt aber dennoch eine bizarre nihilistische Faszination aus, der zumindest ich mich nicht entziehen konnte. Es verwundert nicht, dass der sich derart öffentlich entblößende Dazai noch im Jahr der Veröffentlichung den Freitod suchte. Nachdem seine Ehefrau 3 gemeinsame Kinder zur Welt gebracht hatte, verließ er 1948, schwer alkoholkrank, seine Familie, um seine letzten Lebensmonate gemeinsam mit einer jungen Kriegerwitwe zu verbringen. Er ertränkte sich mit seiner Geliebten am 13. Juni 1948 in einem Kanal in der Nähe der gemeinsamen Wohnung *. Ein Ereignis, das übrigens den jungen Yukio Mishima maßgeblich inspirieren sollte, der nun gleichfalls begann den Suizid als romantischen Akt der Selbstbefreiung zu verklären. Die melodramatische Todessehnsucht erwies sich einmal mehr als Seuche unter Japans Literaten.

*Randnotiz: Im tragikomischen Musical MEMORIES OF MATZUKO wird auf den Freitod Osamus direkt Bezug genommen, als sich die Filmheldin in dem Kanal zu ertränken versucht, in dem schon Dazai sein Ende fand. Mangels Hochwasser scheitert sie jedoch kläglich.

Montag, 6. September 2010

5 CENTIMETERS PER SECOND - Der Liebe beim Trocknen zusehen… (8/10)


Wie auch Makoto Shinkais "THE PLACE PROMISED IN OUR EARLY DAYS", ist auch dieser Anime ein zwiespältiges Vergnügen. Da sind zum einen die photorealistisch anmutenden Hintergründe, die eine hyperrealistische fast schmerzhafte Schönheit vermitteln. Vor allem der Himmel in all seiner kristallenen Klarheit, das Spiel der Wolken und Farben, scheint Shinkai in seinen Bann gezogen zu haben. Die Animation als solche ist dagegen "nur" solide, erreicht aber nicht die Brillanz der Hintergründe. Es ist fast unvergleichlich (lediglich Oshii erreicht hier bei mir eine ähnliche Intensität) wie es Shinkai gelingt besondere Stimmungen zu transportieren, ein wahrhafter Impressionist der Kinoleinwand, diese alles durchdringende Melancholie, diese erhabene Sentimentalität.


Die Kehrseite dieses Schwelgen in stimmungsvollen Bildern, ist jedoch die relative Substanzlosigkeit der Story, die ziemlich belanglos zu keinem Zeitpunkt das Niveau einer Seifenoper übersteigt. Eine kitschige unerfüllte Liebesgeschichte, die an sich platter nicht sein könnte. Offene Enden unüberbrückbarer tragischer Liebesbeziehungen sind im Romance- Drama-Comedy-Anime (ob Serie oder Film) leider ein genretypisches Element und können zumindest dem langjährigen Anime-Liebhaber nur noch ein Gähnen entlocken. Auch die drei Hauptcharaktere überzeugen kaum. Lediglich Kanae, die unglücklich verliebte Mittelschülerin, konnte mich halbwegs emotional an sich binden. Vor allem der Hauptcharakter Takaki überbietet sich in seinen Selbstreflektionen in abgedroschenen Plattheiten. Ein selten farbloser Protagonist.
 

Doch was soll ich sagen, ich habe mich viel zu sehr in den impressionistischen Himmeln verloren, als dass diese Kritik meine unter dem Strich vorhandene Begeisterung nachhaltig trüben könnte. Viel zu gerne versinke ich im Rausch der Bilder, so dass mein geistiges Korrektiv ins Leere laufen muss.
Nach "5 CENTIMETERS PER SECOND" (seinem bisher stärksten Werk) sollte Shinkai aber so langsam neue Themenfelder erschließen, denn im Grunde genommen habe alle drei seiner bisherigen Anime die gleiche Geschichte erzählt: Junge liebt Mädchen, Mädchen liebt Junge, doch aufgrund ihrer Unfähigkeit ihre Liebe wahrhaftig zu kommunizieren gehen beide (fast) an ihrer sprachlosen Einsamkeit zugrunde. Das Thema der Unmöglichkeit echter emotionaler Kommunikation im Zeitalter der SMS hat er damit genügend abgegrast. Ich bin gespannt ob er mich zukünftig mit einer innovativen Idee überraschen kann und nicht weiterhin im Leerlauf um seinen Nabel tanzt.


Die Doppel-DVD von Kaze bietet ein gutes klares Bild, welches das Blau des Himmels zum Leuchten bringt. Die deutsche Synchronisation interpretiert die Stimmen der Protagonisten emotional etwas anders als in der japanischen Version, was ich aber durchaus als angenehme Abwechslung empfunden habe. OmU-Fanatiker sehen dies (ihrem Wahn entsprechend) wohl etwas kritischer. Insgesamt, auch dank gelungener Extras wie einem umfangreichen Beiheft und Interviews, eine gelungene Doppel-DVD, die neben "5 CENTIMETERS PER SECOND" auch den ersten längeren Anime Shinkais "VOICES OF A DISTANT STAR" und den Kurzfilm "SHE AND HER CAT" mitliefert.


Titel: 5 Centimeters per second
Regie: Makoto Shinkai
Entstehungsjahr: 2007
Länge: 87 Minuten
DVD: KAZE /AV Visionen
Ton: Deutsch, Japanisch
Untertitel: Deutsch

Samstag, 4. September 2010

PARANOIA AGENT - oder - Ein Schlag auf den Hinterkopf hat noch keinem geschadet! 10/10


Satoshi Kon hinterließ mit seinen 4 Kinofilmen PERFECT BLUE, MILLENNIUM ACTRESSTOKYO GODFATHERS und PAPRIKA Meisterwerke des Zeichentricks, die das Herz jeden Fans des Genres höher schlagen lassen. Seine beste Arbeit, die Spitze der kreativen und erzählerischen Verdichtung, erreichte er jedoch erst in einzelnen Episoden seiner Anime-Serie Paranoia Agent, wahre Sternstunden der Animation.

Eine nächtliche verlassene Gasse, schummriges Licht der Straßenlaternen zu den Füßen, der Kopf voller wüster Gedanken, Sehnsucht nach Erlösung, das irrationale Gefühl nicht allein zu sein, das Hallen der eigenen Schritte auf dem Asphalt, im Schatten heranstürmende Inlineskates, in den Augenwinkeln ein goldener Schläger, dröhnender Schmerz, die Welt bricht in Scherben.

Was ist Shonen-Bat eigentlich? Ein brutaler Jugendlicher Schläger? Ein Symbol der gesellschaftlichen Auflösung? Ein urbaner Mythos, der dem Buhmann gleich kleine Kinder frisst? Ein sich von Lüge und Verzweiflung nährender Dämon? Die Serie bietet hier zunächst keine Lösung, errichtet stattdessen einen immer verworrener wuchernden Irrgarten aus falschen Fährten und Halbwahrheiten. Ausgangspunkt der Handlung sind die kleinen alltäglichen Notlügen, die jeder (?!) von uns schon leichtfertig ausgesprochen hat und welch große Schuld aus solch scheinbar lässlichen Sünden erwachsen kann.

In der Hektik der modernen Leistungsgesellschaft werden die Menschen gezwungen ihre Gefühle, ihre Träume, ihr wahres Ich zu unterdrücken. Sie verstecken sich hinter mühsam konstruierten Masken, leben zwanghaft eine Lüge, um ihr Selbstbild zu schützen. Einige verzweifeln derart an diesem Zerrbild ihres Selbst, dass sie innerlich beginnen um Hilfe zu flehen, um endlich aus dem aus Zwängen erbauten Käfig entfliehen zu können. Sie sehnen sich nach irgendeiner Form der Veränderung, irgendetwas das den Alptraum zu dem ihr Leben geworden ist zum Einsturz bringt. Und ihr verzweifelter Schrei verhallt nicht ungehört, die Erlösung ereilt sie in Form eines goldenen Schlägers, der wuchtig auf ihrem Schädel explodiert.
Shonen-Bat ist somit weitaus mehr als ein brutales Zeugnis der Jugendgewalt, er wird zu einem Mantra der Verzweifelten, eine radikale Therapie, die herbeiimaginisiert das aus den Fugen geratene Weltbild zertrümmert. Eine schmerzvolle, aber letztendlich erfolgreiche Rosskur, die Shonen-Bats Opfer auf ihr nacktes Selbst zurück wirft.

Satoshi Kon erschuf mit PARANOIA AGENT seine ganz persönliche Spielwiese auf der sich seine kreative Energie ungebremst austoben konnte. Er verarbeitete verschiedene in seinen vorherigen Kinofilmen nicht genutzte Ideen und verwob sie zu etwas ganz Neuem, einem urbanen Mysterie-Thriller, der die narrativen Möglichkeiten der Animation an seine Grenzen führt.
So wird die Thematik der Schizophrenie aus Perfect Blue erneut aufgegriffen. Kritische Themen wie Schülermobbing, sexueller Missbrauch, Selbstmordclubs, Korruption und zerplatzte Lebensträume, folgen in weiteren Episoden. Aufgelockert wird das ganze durch manch schrägen Regieeinfall und vordergründig absurd komische Abschweifungen. Zwar fallen einige Folgen in ihrer Intensität etwas ab, vor allem zu Beginn der zweiten Hälfte der Serie, die den Mythos „Shonen Bats“ auf eine abstraktere Ebene verlagert, scheint PARANOIA AGENT vorübergehend seinen Focus zu verlieren, um aber dann wieder Fahrt aufzunehmen und letztlich in einem aberwitzigen Finale zu verglühen.
Dabei stellt sich die Animation, trotz aller überschäumender Bilderflut, (fast) immer in den Dienst der Handlung. Die Einzelfolgen scheinen zuweilen nur lose miteinander verbunden, beleuchten aber immer eine neue Facette des Phänomens „Shonen Bat“ und erst zum Ende der 13 Folgen fügen sich die einzelnen Puzzlestücke zu so etwas wie einem Gesamtbild zusammen, ohne aber dem Zuschauer eine simple Lösung vorzukauen. Das aufgeblasene Finale, dass seine aufgestaute Spannung in eine wahnwitzige Zerstörungswut entlädt, scheint zunächst unpassend und enttäuscht vielleicht den einen oder anderen Zuschauer, der eine rationalere Auflösung erwartet. Letztendlich ist dieses Ende aber nur konsequent, treibt es doch das verworrene Geflecht aus unterdrückten Schuldgefühlen der Maromi-Erfinderin Tsukiko auf die Spitze. Ich las in anderen Kritiken, dass dies die Erdung der Serie ad absurdum führe. Das ist natürlich Unsinn, denn das Konzept von „Paranoia Agent“ bestand zu keinem Zeitpunkt in einem nüchternen Realitätsbezug, sondern in der irrationalen Visualisierung menschlichen Gefühlschaos. Eine animierte Welt ist genauso wenig real wie die subjektive Reflektion der Wirklichkeit unserer Sinne. Dessen ist sich PARANOIA AGENT stets bewusst und spielt geschickt mit den narrativen Freiheiten die solch eine Tatsache mit sich bringt. Und erst dadurch erreicht die Serie eine innere Wahrhaftigkeit, die mehr über das Wesen der Menschen aussagt, als es einer Realserie gleicher Thematik möglich gewesen wäre.
Mit PARANOIA AGENT hat Satoshi Kon, trotz dem kleinen Hänger in der Mitte, eine der besten Animeserien überhaupt geschaffen. Jeder Fan anspruchsvoller experimentierfreudiger Animation kommt hieran nicht vorbei, nicht weniger als ein Meisterwerk der Fernsehgeschichte.