- Widmung der symphonischen Dichtung "Tapiola" -

Da dehnen sich des Westlands Wälder, uralt, geheimnisvoll in wilden Träumen, Waldgeister weben in dem Dunkel.

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Montag, 4. Oktober 2010

DER TAIGAJÄGER DERSU USALA – Vom Sterben einer Kultur

„Da kam eine Spechtmeise angeflogen, setzte sich auf einen Busch beim Grab, blickte zutraulich zu mir herüber und fing an zu zwitschern. "Friedliche Leute", so pflegte Dersu, wie ich mich erinnerte, diese gefiederten Bewohner der Taiga zu nennen. Das Vögelchen flatterte auf und verschwand im Gebüsch. Und erneut wurde mir beklommen ums Herz. "Ruhe in Frieden, Dersu!" Sprach ich ein letztes Mal und ging davon.“  
Wladimir Arsenjew (1872-1930)
Den in St. Petersburg geborenen Wladimir Arsenjew plagte schon früh das Fernweh und er verschlang als Junge die populäre Reiseliteratur seiner Zeit. Nach dem Besuch einer Kadettenanstalt und seinem Schulabschluss 1896 bemühte er sich sogleich um Forschungsaufträge in die sibirische Wildnis. Zunächst war er jedoch gezwungen im europäischen Teil Russlands und in Polen erste praktische Erfahrung als Feldforscher und Kartograph zu sammeln, bevor er 1899 dem Ziel seiner Sehnsucht endlich nahe kam und nach Wladiwostock versetzt wurde. Als zaristischer Offizier organisierte er ab 1902 von seinem Armeestützpunkt in Chabarowsk aus Expeditionen in die damals noch unerschlossene Ussuri-Region. In den nächsten 28 Jahren führte er 12 größere kartographische botanisch-zoologische Forschungsreisen durch.


Nach der Oktoberrevolution stellte er sich bereitwillig in den Dienst der neuen Machthaber und konnte so seine Arbeit zunächst ungestört fortsetzen. In den zwanziger Jahren veröffentlichte er erste Reisebücher über seine Erfahrungen als Expeditionsleiter. Doch schon bald verschlechterte sich das politische Klima in Russland und im Zuge der ersten paranoiden stalinistischen Säuberungswellen geriet auch Arsenjew, da er freundschaftliche Verbindungen zu japanischen Staatsbürgern pflegte, unter Verdacht ein Konterrevolutionär und Spion zu sein. Die seit dem ersten japanisch-russischen Krieg schwelende Rivalität zwischen der UDSSR und dem japanischen Kaiserreich wurde  mit der aggressiven japanischen Expansionspolitik der frühen Showa-Zeit erneut zu einer ernsten Bedrohung des Friedens in der Region. Im rohstoffreichen südöstlichen Sibirien und Nordostchina überschnitten sich die Interessengebiete und allgemeines martialisches Säbelrasseln war die Folge. In den dreißiger Jahren folgten zahlreiche Grenzscharmützel, da die offizielle Grenzziehung im Ussurigebiet vakant blieb.
Kurz bevor Arsenjew aufgrund einer Anklage wegen Hochverrates verhaftet werden konnte, starb er an einer schweren Lungenentzündung in der Wildnis Sibiriens. Seine Witwe wurde in der Hoch-Zeit des stalinistischen Terrors 1938 als japanische Spionin erschossen. Erst 1946 wurde Arsenjew rehabilitiert und seine Reisebeschreibungen und Expeditionstagebücher neu aufgelegt. Vor allem in den Staaten des Ostblocks erschienen zahlreiche Auflagen seiner Werke (ca. 60 Publikationen), bevor er wieder begann in Vergessenheit zu geraten.


Arsenjews bekanntestes Werk wurde DER TAIGAJÄGER DERSU USALA (veröffentlicht 1923) in dem er im Wesentlichen die Erlebnisse seiner Exedition aus dem Jahre 1907 ins Küstengebirge Sichote Alin zusammenfasst. Er schildert auf anschauliche und präzise beobachtende Weise die Schönheiten der Wildnis, von Flora und Fauna Ostsibiriens, beschäftigt sich insbesondere mit den Eigenarten der Nomadenvölker und Neusiedlern der Ussuri-Region.
Auf einer früheren Forschungsreise lernte er schon 1902 Dersu Usala, einen Jäger und Fallensteller aus dem Stamme der Golden (Nanai), kennen. Der nach dem Tod seiner Sippe allein umherziehende Dersu wurde schnell Arsenjews unverzichtbarer Führer auf mehreren seiner Expeditionen. Er lehrte ihm Fährten zu lesen, das Wild zu überlisten, Fallen zu stellen, Heilkräuter zu sammeln und die Gebräuche und Sprachen der nomadischen Naturvölker Ostsibiriens zu verstehen. Die beiden von ihrer Herkunft her grundverschiedenen Männer wurden schließlich Freunde. Eine an sich unmögliche Freundschaft. Dort der „zivilisierte“ Internatsschüler und Offizier aus St. Petersburg, hier der allein durch mündlich überliefertes Wissen eines Naturvolkes gebildete Taigajäger. 

Dersu Usala
Was dieses Werk auch heute noch lesenswert macht ist der anschaulich beschriebene archetypische Konflikt zwischen Wildnis und Moderne. Der Golde Dersu Usala steht hier für die Schönheiten des unberührten Ostsibiriens, das ursprüngliche Miteinander von Mensch und Natur, lebend in einem inneren Gleichgewicht. Arsenjew hingegen verkörpert den Vorboten der industriellen Zivilisation, die in ihrem Hunger nach den Bodenschätzen Sibiriens selbst in entlegene Gebiete der Taiga vordringt. Indem er die Eigenarten der Region beschreibt, die atemberaubende Schönheit der Landschaften kartographisiert, ebnet er den Weg für die Ingenieure der Eisenbahn- und Bergwerksgesellschaften, für Neusiedler aus den europäischen Teilen Russlands, die schon bald den Küstenstreifen seiner Ursprünglichkeit berauben sollten. Dersu Usalas tragischer Tod (1908) steht geradezu symbolhaft für den Untergang einer ganzen Kultur, die in unserer modernen hektischen Gesellschaft keinen Platz mehr findet, ein überholtes Relikt aus einer längst entschwundenen mythischen Vergangenheit. Als sich Arsenjew am Ende des Buches von Dersu verabschiedet, erscheint es nicht nur wie der Abschied von einem guten Freund und Lehrmeister, sondern wie ein Abgesang auf das alte Sibirien als ganzes, dessen herbe naturbelassene Schönheit Arsenjew eigentlich so liebte und an dessen Untergang er sich ungewollt beteiligte. Nicht Dersu ist am Ende die tragische Figur, er muss den schleichenden Untergang seiner Heimat nicht mehr miterleben, sondern Arsenjew, der in seiner schuldbeladenen Trauer allein zurückbleibt.   

Arsenjew und Dersu 1907
Akira Kurosawa verfilmte das Buch von 1973 bis 1975 kongenial, in abgewandelter und stark gekürzter Form, an Originalschauplätzen in der Sowjetunion. Nach Agasi Babayans heute vergessener Adaption von 1961, war dies schon die zweite Verfilmung. Zuvor war Kurosawa Anfang der siebziger Jahre, nach dem finanziell katastrophalen Misserfolg von DODESKADEN, in eine tiefe Schaffenskrise geraten. Erst die sowjetisch-japanische Koproduktion UZALA DER KIRGISE ermöglichte ihm wieder als Regisseur zu arbeiten.
UZALA wurde Kurosawas einziger nicht in japanischer Sprache gedrehtes Werk und machte seine beiden Hauptdarsteller Juri Solomin und Maxim Munsuk schlagartig auch im Westen bekannt. Mit Juri Solomin blieb Kurosawa bis zu seinem Tode in freundschaftlichem Kontakt. Besonders die herausragende Leistung des tuwinischen Theaterschauspielers Maxim Munsuk bleibt unvergessen. Erst seine wahrhaftige Verkörperung der Titelfigur, macht Dersu Usala für den Zuschauer wirklich greifbar. Die melancholische Grundstimmung des Films, verbindet sich mit der atemberaubenden Schönheit der Landschaften Sibiriens zu einem ganz besonderen Kinoerlebnis. Zu Recht gewann UZALA DER KIRGISE 1976 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.
Für mich ergänzen sich Arsenjews lebendig geschilderter Expeditionsbericht und Kurosawas episch verfremdete Filmversion zu einem einmaligen Gesamtkunstwerk.

"Im Winter 1910 kehrte ich nach Chabarowsk zurück und fuhr unverzüglich zur Station Korfowskaja, um das mir so teure Grab aufzusuchen. Doch ich erkannte die Stelle nicht wieder – alles hatte sich verändert. Bei der Station war eine ganz neue Siedlung entstanden, am Fuße des Chechzir hatte man Granitbrüche in Betrieb genommen, man rodete den Wald, fertigte Schwellen an. Dsjul und ich versuchten mehrmals, Dersus Grab ausfindig zu machen – doch vergeblich. Die damals dort wachsenden Zirbelkiefern waren verschwunden, man sah überall neue Wege, Dämme, Einschnitte, Hügel, Rinnen und Gruben …"
"Ruhe in Frieden, Dersu!"

5 Kommentare:

  1. Ein wunderbarer Artikel, der in mir die Lust geweckt hat, die literarische Vorlage des von mir überaus geschätzten Films ausfindig zu machen. Und natürlich, den Film nach so vielen Jahren wieder einmal zu sehen.

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  2. Danke für die Blumen. Dersu Usala gehört zu meinen Lieblingsfilmen. Neben Sieben Samurai war dies mein erster Kurosawa den ich als Kind im TV gesehen habe, ohne zunächst zu realisieren, dass beide Filme vom selben Regisseur stammen. Besonders in den epischen Landschaftsaufnahmen könnte ich mich verlieren.

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  3. Ich habe den Film bislang nur in entweder verwaschenen Farben oder in Rotstich sehen können - beide Male im Kino.
    Ich hoffe, es gibt eine farbrestaurierte DVD.

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  4. Auf Arte lief zuletzt eine hervorragend restaurierte Fassung, die aber nicht auf DVD erhältlich ist. Die deutsche DVD von Icestorm Entertainment ist grässlich. Qualitativ etwas besser - die Farben - und mit deutschen Untertiteln (!) versehen ist die russische Doppel-DVD von Ruscico. Aber auch hier ist das Bild insgesamt von eher bescheidener Güte (matschig und unscharf). Dafür gibt es als Extras eine Art Making Of aus der Entstehungszeit des Films und ein langes bewegendes, sehr persönliches Interview mit dem Hauptdarsteller Juri Solomin aus dem Jahr 2001. Die UK DVD von Artificial Eye ist von der Bildqualität her noch am ehesten brauchbar, aber immer noch weit entfernt von der Arte-Fassung.

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  5. Bleibt zu hoffen, dass die Arte-Fassung auf DVD veröffentlicht wird.
    Oder dass Criterion sich demnächst des Films annimmt - es geht ja nicht an, dass ein so grosser Film nur in mittelprächtiger Qualität erhältlich ist...

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