- Widmung der symphonischen Dichtung "Tapiola" -

Da dehnen sich des Westlands Wälder, uralt, geheimnisvoll in wilden Träumen, Waldgeister weben in dem Dunkel.

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Samstag, 4. September 2010

PARANOIA AGENT - oder - Ein Schlag auf den Hinterkopf hat noch keinem geschadet! 10/10


Satoshi Kon hinterließ mit seinen 4 Kinofilmen PERFECT BLUE, MILLENNIUM ACTRESSTOKYO GODFATHERS und PAPRIKA Meisterwerke des Zeichentricks, die das Herz jeden Fans des Genres höher schlagen lassen. Seine beste Arbeit, die Spitze der kreativen und erzählerischen Verdichtung, erreichte er jedoch erst in einzelnen Episoden seiner Anime-Serie Paranoia Agent, wahre Sternstunden der Animation.

Eine nächtliche verlassene Gasse, schummriges Licht der Straßenlaternen zu den Füßen, der Kopf voller wüster Gedanken, Sehnsucht nach Erlösung, das irrationale Gefühl nicht allein zu sein, das Hallen der eigenen Schritte auf dem Asphalt, im Schatten heranstürmende Inlineskates, in den Augenwinkeln ein goldener Schläger, dröhnender Schmerz, die Welt bricht in Scherben.

Was ist Shonen-Bat eigentlich? Ein brutaler Jugendlicher Schläger? Ein Symbol der gesellschaftlichen Auflösung? Ein urbaner Mythos, der dem Buhmann gleich kleine Kinder frisst? Ein sich von Lüge und Verzweiflung nährender Dämon? Die Serie bietet hier zunächst keine Lösung, errichtet stattdessen einen immer verworrener wuchernden Irrgarten aus falschen Fährten und Halbwahrheiten. Ausgangspunkt der Handlung sind die kleinen alltäglichen Notlügen, die jeder (?!) von uns schon leichtfertig ausgesprochen hat und welch große Schuld aus solch scheinbar lässlichen Sünden erwachsen kann.

In der Hektik der modernen Leistungsgesellschaft werden die Menschen gezwungen ihre Gefühle, ihre Träume, ihr wahres Ich zu unterdrücken. Sie verstecken sich hinter mühsam konstruierten Masken, leben zwanghaft eine Lüge, um ihr Selbstbild zu schützen. Einige verzweifeln derart an diesem Zerrbild ihres Selbst, dass sie innerlich beginnen um Hilfe zu flehen, um endlich aus dem aus Zwängen erbauten Käfig entfliehen zu können. Sie sehnen sich nach irgendeiner Form der Veränderung, irgendetwas das den Alptraum zu dem ihr Leben geworden ist zum Einsturz bringt. Und ihr verzweifelter Schrei verhallt nicht ungehört, die Erlösung ereilt sie in Form eines goldenen Schlägers, der wuchtig auf ihrem Schädel explodiert.
Shonen-Bat ist somit weitaus mehr als ein brutales Zeugnis der Jugendgewalt, er wird zu einem Mantra der Verzweifelten, eine radikale Therapie, die herbeiimaginisiert das aus den Fugen geratene Weltbild zertrümmert. Eine schmerzvolle, aber letztendlich erfolgreiche Rosskur, die Shonen-Bats Opfer auf ihr nacktes Selbst zurück wirft.

Satoshi Kon erschuf mit PARANOIA AGENT seine ganz persönliche Spielwiese auf der sich seine kreative Energie ungebremst austoben konnte. Er verarbeitete verschiedene in seinen vorherigen Kinofilmen nicht genutzte Ideen und verwob sie zu etwas ganz Neuem, einem urbanen Mysterie-Thriller, der die narrativen Möglichkeiten der Animation an seine Grenzen führt.
So wird die Thematik der Schizophrenie aus Perfect Blue erneut aufgegriffen. Kritische Themen wie Schülermobbing, sexueller Missbrauch, Selbstmordclubs, Korruption und zerplatzte Lebensträume, folgen in weiteren Episoden. Aufgelockert wird das ganze durch manch schrägen Regieeinfall und vordergründig absurd komische Abschweifungen. Zwar fallen einige Folgen in ihrer Intensität etwas ab, vor allem zu Beginn der zweiten Hälfte der Serie, die den Mythos „Shonen Bats“ auf eine abstraktere Ebene verlagert, scheint PARANOIA AGENT vorübergehend seinen Focus zu verlieren, um aber dann wieder Fahrt aufzunehmen und letztlich in einem aberwitzigen Finale zu verglühen.
Dabei stellt sich die Animation, trotz aller überschäumender Bilderflut, (fast) immer in den Dienst der Handlung. Die Einzelfolgen scheinen zuweilen nur lose miteinander verbunden, beleuchten aber immer eine neue Facette des Phänomens „Shonen Bat“ und erst zum Ende der 13 Folgen fügen sich die einzelnen Puzzlestücke zu so etwas wie einem Gesamtbild zusammen, ohne aber dem Zuschauer eine simple Lösung vorzukauen. Das aufgeblasene Finale, dass seine aufgestaute Spannung in eine wahnwitzige Zerstörungswut entlädt, scheint zunächst unpassend und enttäuscht vielleicht den einen oder anderen Zuschauer, der eine rationalere Auflösung erwartet. Letztendlich ist dieses Ende aber nur konsequent, treibt es doch das verworrene Geflecht aus unterdrückten Schuldgefühlen der Maromi-Erfinderin Tsukiko auf die Spitze. Ich las in anderen Kritiken, dass dies die Erdung der Serie ad absurdum führe. Das ist natürlich Unsinn, denn das Konzept von „Paranoia Agent“ bestand zu keinem Zeitpunkt in einem nüchternen Realitätsbezug, sondern in der irrationalen Visualisierung menschlichen Gefühlschaos. Eine animierte Welt ist genauso wenig real wie die subjektive Reflektion der Wirklichkeit unserer Sinne. Dessen ist sich PARANOIA AGENT stets bewusst und spielt geschickt mit den narrativen Freiheiten die solch eine Tatsache mit sich bringt. Und erst dadurch erreicht die Serie eine innere Wahrhaftigkeit, die mehr über das Wesen der Menschen aussagt, als es einer Realserie gleicher Thematik möglich gewesen wäre.
Mit PARANOIA AGENT hat Satoshi Kon, trotz dem kleinen Hänger in der Mitte, eine der besten Animeserien überhaupt geschaffen. Jeder Fan anspruchsvoller experimentierfreudiger Animation kommt hieran nicht vorbei, nicht weniger als ein Meisterwerk der Fernsehgeschichte.

2 Kommentare:

  1. Gelungene Rezension. "Paranoia Agent" ist auch eine meiner liebsten Animeserien. Einfach unheimlich stark, was Kon da präsentiert.
    Ich kann deiner Bewertung jedenfalls bedenklos zustimmen und sollte dieses Werk vielleicht einfach irgendwann noch einmal sehen, bekomme gerade wieder Lust darauf...

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  2. Eine Rezension aus traurigem Anlass. Der unerwartete Tod Satoshi Kons traf mich in weitaus stärkerem Maße, als ich es für möglich gehalten hätte. Für mich war er der talentierteste Animationskünstler seiner Generation. Wer weiß welch großartige Werke er uns in Zukunft noch geschenkt hätte...

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