- Widmung der symphonischen Dichtung "Tapiola" -

Da dehnen sich des Westlands Wälder, uralt, geheimnisvoll in wilden Träumen, Waldgeister weben in dem Dunkel.

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Samstag, 25. September 2010

NOBI - Feuer im Grasland


„Doch vielleicht wollte ich sie wirklich essen – 
ich, in meinem früheren Leben ein gefallener Engel mit einem Gewehr in der Hand -, um sie zu strafen. Vielleicht war dies mein Wunsch, als ich mich ihnen angesichts der Graslandfeuer unbedingt nähern wollte.“

Ooka Shohei (1909-1988)

Ōoka Shōhei war 35 Jahre alt, als sein bis dahin friedvolles Leben einen dramatischen Wendung erfuhr. Geboren 1909 in Ushigome (Tokio) wuchs er behütet in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie auf. Seine Eltern förderten schon früh seine musische Begabung und brachten ihn mit europäischer Literatur in Kontakt. In der Schule erlernte er die französische Sprache und beherrschte sie schließlich so gut, dass er nach seinem Literaturstudium als hauptberuflicher Übersetzer arbeiten konnte. In seiner Freizeit übertrug er die Werke Stendhals ins Japanische. Er pflegte zwar Kontakt zur japanischen Literaturszene, ohne aber selbst als Autor in Erscheinung zu treten. Und daran hätte sich vermutlich auch nichts geändert, hätten die geschichtlichen Ereignisse seine friedliche bürgerliche Existenz nicht aus den Angeln gehoben.

Showa-Tenno (1930er Jahre)

Neben der weltoffenen Neugier des aufblühenden japanischen Bürgertums auf das westliche Kulturleben, hatten die Meiji-Reformen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert auch weniger friedvolle Folgen. Aggressiv wurde die industrielle Revolution forciert, um den technischen Rückstand gegenüber den imperialistischen Großmächten einzuholen. Das Gefühl der militärischen Ohnmacht saß wie ein Stachel im Selbstbewusstsein der japanischen Eliten, so wurde alles daran gesetzt eine schlagfertige Armee aufzubauen, die sich den westlichen Pendants mindestens als ebenbürtig  erwies. Das zaristische Russland war 1904 das erste europäische Land, dass den Erfolg der japanischen Bemühungen zu spüren bekam. Japan übernahm das aus dem Dünkel eines zivilisatorischen Überlegenheitsgefühls erwachsene imperialistische Sendungsbewusstsein des Westens und verband es mit der damals populären Idee des Panasianismus, die Südost- und Zentralasien, unter japanischer Führung, vom europäischen Joch befreien sollte. Taiwan (1895) und Korea (1910) waren die ersten Staaten die in den Genuss dieser "selbstlosen" japanischen "Befreiungsideologie" kamen. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts richtete sich Japans Hunger auf das durch 20 Jahre Bürgerkrieg gelähmte China. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen wurde 1931 die Mandschurei besetzt. 1937 begann schließlich auf Druck der Armeeführung, die mittlerweile die zivile Regierung zu einem reinen Handlanger degradiert hatte, der japanisch-chinesische Krieg. Nach anfänglichen Erfolgen kam der Vormarsch jedoch ins Stocken. Für diesen Rückschlag machte das japanische Oberkommando nicht zuletzt westliche Militärhilfe und durch den amerikanischen Handelsboykott bedingte eigene Nachschubprobleme verantwortlich. Die militärische Logik verlangte Gegenmaßnamen. Mit dem Angriff auf die USA 1941 begann der unausweichliche Niedergang des japanischen Imperialismus. Zunächst konnte Japan zwar zahlreiche südostasiatische Staaten besetzen und die durch den europäischen Kriegsschauplatz gebundenen westlichen Kolonialmächte vertreiben. 1942 wurden selbst die auf den Philippinen abgeschnitten operierenden US-Streitkräfte vernichtend geschlagen. Doch spätestens 1943 erwiesen sich diese Siege als Selbsttäuschung und die japanische Armee wurde durch die amerikanische Übermacht unerbittlich in die Defensive gedrängt. In seiner Verzweiflung folgte Japans Militärdiktatur dem Vorbild des deutschen Reiches und totalisierte die Kriegsführung in einem zuvor nicht vorstellbaren Ausmaß. Bis dahin vom Kriegsdienst verschonte Zivilisten wurden von der Armee eingezogen und schlecht ausgerüstet und ausgebildet in sinnlosen Abwehrschlachten verheizt. 1944 traf es schließlich auch den für den Militärdienst eigentlich völlig untauglichen Literaten Ōoka Shōhei, der zur Verteidigung der philippinischen Insel Leyte für das Vaterland seine Pflicht erfüllen sollte. Den amerikanischen Angreifern hoffnungslos unterlegen, durch Hunger und Krankheit ausgezehrt, begannen sich schon bald die militärischen Strukturen der Japaner aufzulösen. Die versprengten Einheiten kämpften nur noch um das eigene Überleben und verloren dabei jeden Rest von Menschlichkeit. Verschiedenen Berichten zufolge kam es schließlich auch zu Fällen des ultimativen Zivilisationsbruchs, zum Kannibalismus. Shōhei überlebte die Kämpfe wie durch ein Wunder und geriet 1945 in Kriegsgefangenschaft. 

LEYTE (1944)

Im Nachkriegsjapan fand er sich anfänglich nur schwer zurecht, zu tief saß die innere Erschütterung über das Erlebte, zu tief saß seine Scham überlebt und nicht, wie es die kaiserliche Propaganda verlangte, ehrenhaft gefallen zu sein. Irritiert registrierte er wie rasch die japanische Gesellschaft die Kriegserfahrungen verdrängte ohne daraus scheinbar auch nur die geringsten Lehren zu ziehen. Ansätze einer öffentlichen Diskussion über die eigene Kriegsschuld wurden fast unmittelbar durch das Gedenken an die Opfer der amerikanischen Luftangriffe und Atombombenabwürfe erstickt. Angeregt durch seinen Mentor Hideo Kobayashi begann Shōhei schließlich über seine Kriegserfahrungen zu schreiben und veröffentlichte eine erste Sammlung von Kurzgeschichten (FURYOKI 1948). Der Erfolg ermutigte ihn dazu seine literarischen Bemühungen fortzusetzen. 1951 veröffentlichte er sein international bekanntestes Werk, NOBI - FEUER IM GRASLAND, in dem er seine persönlichen Erlebnisse wohl am Eindringlichsten zu einer Reise in die menschlichen Abgründe verdichten konnte. Ein Abstieg ins Herz der Finsternis, vor dessen realem Grauen selbst Joseph Conrads Roman wie von Sonne durchflutet erscheinen muss.

Überreste eines japanischen Soldaten (2008)

Tamura, ein in einer psychatrischen Klinik einsitzender Patient, soll auf anraten des behandelnden Arztes seine Kriegserlebnisse aufschreiben, in deren Verdrängung er einen wesentlichen Grund für sein Nervenleiden sieht. Mühsam erinnert er die Ereignisse der Schlacht von Leyte, an der er als einfacher Soldat teilgenommen hatte.  1945, die japanisch kaiserliche Armee ist längst in Selbstauflösung begriffen, jeder Stolz im Angesicht der totalen Niederlage vergessen. Aufgrund seiner Tuberkulose als nutzloser Esser von den eigenen Kameraden verstoßen, stolpert Tamura durch die im Chaos versinkende tropische Landschaft, ständig auf der Flucht vor  einem unsichtbaren Feind, kommt er an den Dörfern der Filipinos, an versprengten japanischen Einheiten vorbei, die nur noch ums nackte Leben kämpfen. Tamura hatte schreckliche Dinge getan, hatte getötet um zu überleben, unbewaffnete Zivilisten und Kameraden, doch einen letzten Kern seiner Menschlichkeit wollte er sich um jeden Preis bewahren. Als er vor Hunger halb wahnsinnig ein verlassenes Dorf betritt, nur noch von Fliegenschwärmen und verfaulenden Leichen japanischer Soldaten bevölkert, findet er Anzeichen für Kannibalismus. Von Grauen erfüllt verlässt er fluchtartig diesen Ort des Todes. Kurz darauf trifft er auf eine kleine Gruppe überlebender Landsleute, die es irgendwie geschafft haben sich in diesem lebensfeindlichen Tropenparadies eine Nahrungsquelle zu erschließen. Sie bieten ihm etwas von ihrem Vorrat an getrocknetem "Affenfleisch" an und schon bald wird er eingeladen sie bei ihrer "Affenjagd" zu begleiten. Als Tamura bewusst wird auf was hier wirklich Jagd gemacht wird, ist es fast schon zu spät, jede Menschlichkeit beinahe in ihm verdorrt. Irgendwie überlebt Tamura die Wirren der letzten Kriegstage, erinnert sich in der Klinik an die Rauchsäulen auf den philippinischen Ebenen, die ihn drohend mit ihren Flammen umkreisen. In die schwarze Sonne blickend, geht er auf die Leichenfeuer zu und das Lachen der Toten folgt ihm nach.   

NOBI - Ichikawa Kon (1959)

Ichikawa Kon verfilmte den wohl besten japanischen Roman über die Schrecken des Krieges schon 1959 in eindringlichen Bildern. Die unmittelbar radikale Wirkung von Shōheis einfacher, von bitterer Ironie durchzogener, nüchtern beobachtenden Sprache, erreicht der Film dennoch zu keinem Zeitpunkt. Die existenzialistische Grenzerfahrung FEUER IM GRASLAND sollte in jedem Bücheregal direkt neben Remarques IM WESTEN NICHTS NEUES seinen Platz finden, ein erschütterndes Zeugnis der Weltliteratur über die Auflösung des menschlichen Nukleus im Angesicht unfassbaren Grauens.  

2 Kommentare:

  1. Ich sollte als alter Anglist jetzt vielleicht aufschreien: Niemand kommt an Joseph Conrad ran! - was natürlich Unsinn wäre. "Heart of Darkness" versinnbildlicht meines Erachtens vielmehr eine jener "Reisen", die um 1900 in Gang kamen (the voyage without, während etwa die Psychoanalyse "the voyage within" unternahm) und die literarisch verarbeitet nicht ohne die Kategorie des Unheimlichen auskamen. Ich kann also sehr gut nachvollziehen, dass die eigentliche Schilderung des Grauens weitaus erschütternder sein muss (sah man gerade bei dem von dir erwähnten Remarque).

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  2. Ich schätze Joseph Conrads HEART OF DARKNESS ungemein, eines der ganz großen existenzialistschen Werke der Weltliteratur. Rein stilistisch ist Conrads Erzählung Shōhei deutlich überlegen, aber da nur ein Ausdruck seiner Imagination, kann er bei mir nicht das selbe flaue Gefühl im Magen auslösen, wie es NOBI (oder Remarque) mit seinem erschreckenden Realismus gelang. Conrads rein literarisches Meisterwerk bietet mir da im Vergleich "nur" ein intellektuelles "Vergnügen".

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