- Widmung der symphonischen Dichtung "Tapiola" -

Da dehnen sich des Westlands Wälder, uralt, geheimnisvoll in wilden Träumen, Waldgeister weben in dem Dunkel.

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Montag, 15. November 2010

HARUKA NA MACHI-E - Vertraute Fremde (10/10)



Nur ganz selten ist man als Leser von einem literarischen Werk derart beeindruckt, dass man um Worte ringen muss, um die tief empfundene Befriedigung die seine Lektüre in einem auslöst auszudrücken. Dieser außergewöhnliche Manga Jirō Taniguchis ist solch ein Meisterwerk, ein Comic (Neudeutsch „Graphic Novel“) mit der das Medium der sequenziellen Bildergeschichte einem einsamen Höhepunkt zustrebt. VERTRAUTE FREMDE strahlt eine derart reife erzählerische Kraft aus, dass mir schwindelig wird und ich vor Verzückung aufjauchzen möchte. Wie soll man es beschreiben, dieses Gefühl in eine Geschichte einzutauchen, ganz und gar in ihr zu versinken, sich von ihr forttragen zu lassen, treibend im Fluss der Zeit, gefangen in einem Wirbel aus Melancholie und Wehmut, Trauer um das Verlorene, das unwiederbringlich Verloschene, die irrationale Sehnsucht es zurückzuholen, es ungeschehen zu machen, diesen einen Fehler der alles verändern sollte, sich neu zu entscheiden, sich neu zu erfinden, es dieses Mal besser zu machen, es „richtig“ zu machen. Welch intensive begeisternde Leseerfahrung und welch sanfte Traurigkeit die mich mit erreichen der letzten Seiten umfing.


Der 48-jährige Hiroshi Nakahara, ein gefrusteter Familienvater und Architekt aus Tokyo, steigt am Ende einer Geschäftsreise, nach einer durchzechten Nacht, verkatert in den falschen Zug und findet sich überrascht auf dem Weg in seine alte Heimat, seine Geburtsstadt, wieder. Durch die Straßen seiner Jugend irrend besucht er das Grab seiner Mutter und fällt, trübsinnigen selbstmitleidigen Gedanken nachhängend, in tiefe Bewusstlosigkeit. Er erwacht zurückversetzt in das Jahr 1963, wieder 14 Jahre alt, der letzte glückliche Sommer seiner Kindheit, kurz bevor sein Vater spurlos verschwindet. Überwältigt von der Möglichkeit ganz neu anzufangen, alle begangenen Fehler zu vermeiden, unbelastet von den Wirrungen der Pubertät, mit dem Wissen eines Erwachsenen, beginnt er sich in das Leben eines Teenagers zu stürzen, genießt die unbeschwerte Zeit verantwortungsloser Jugend. Und gleichzeitig hofft er irgendwie das Geheimnis um das Verschwinden seines Vaters zu enträtseln, hofft seine Entscheidung wortlos zu gehen, seine Familie zu verlassen, ungeschehen zu machen. Doch Hiroshi muss schmerzhaft erkennen, dass den Möglichkeiten eines 14-jährigen sich gegen die Linen der Zeit zu stemmen enge Grenzen gesetzt sind.


Jirō Taniguchi, geboren am 14. August 1947, widmete VERTRAUTE FREMDE seinen Eltern. Dieses Meisterwerk des anspruchsvollen, in seiner elegischen Langsamkeit beinahe meditativen Manga, wurde jüngst vom Belgier Sam Garbarski für das Kino adaptiert (Ende November erscheint die DVD). Da ich diese Comic-Realverfilmung noch nicht gesehen habe, kann ich auch nichts über die Qualität der Umsetzung sagen. Wie man liest, soll Garbarski sich in seiner Version aber eng an den Handlungsverlauf der Vorlage halten. Ich bin (trotz Alexandra Maria Lara) gespannt. 


Die besondere filmische Qualität dieses Manga kommt der Übertragung in das Medium Film entgegen. Die bewusste Zelebrierung des Augenblicks, das Verweilen in flüchtigen bittersüßen Momenten des Glücks und der Trauer, ist einer der großen Stärken dieses Comics, womit VERTRAUTE FREMDE das gängige Klischee des atemlos hektischen Manga geradezu konterkariert. Die besondere Stilisierung der Realität, die Entdeckung der Schönheit des Alltages, das Sujet der mittelständigen japanischen Familie, von sich wandelnden gesellschaftlichen Bindungen, erinnert nicht von ungefähr an Yasujiro Ozu, da Taniguchi ein erklärter Fan seiner Filme ist. Dabei gelingt es ihm seinem Werk eine universelle urmenschliche Aussage zu geben, die den rein japanischen Kontext hinter sich lässt und auch den europäischen Leser anspricht. 
Für mich ist VERTRAUTE FREMDE ein ganz besonderer persönlicher Liebling unter den in Deutschland veröffentlichten Manga Jirō Taniguchis. Jeder der sich für den erwachsenen anspruchsvollen Comic begeistern kann, sollte dieses zu den wichtigsten japanischen Graphic-Novels der letzten 20 Jahre zählende Werk einmal gelesen haben.

Titel: HARUKA NA MACHI-E - Vertraute Fremde
Erscheinungsjahr: Japan 1997, Deutschland 2007
Verlag: Shogakukan
Deutsche Fassung: Carlsen Verlag
Autor/Zeichner:
Jirō Taniguchi
Länge: ca. 400 Seiten



2 Kommentare:

  1. Eine schöne und richtige Widmung. Wegen dem atemberaubenden, kolossalen Gefühl für Größe hat mir "Gipfel der Götter" zwar einen Tick besser gefallen, aber "Vertraute Fremde" ist ein absolut fantastisches Familienstück, keine Frage. Ergänzenswert wäre vielleicht, dass Taniguchi ein wenig... konservativ oder betulich zeichnet. Damit meine ich gar nicht mal den Vergleich zu supermodernen Sachen, das wäre Quatsch; bei Geschichten wie "Bis in den Himmel" aber merkt man, dass er sich schon sehr in seinem Stil eingelebt hat. Nicht, dass das ein schlechter Stil wäre, alles andere als das.

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  2. Ich kann deiner Begeisterung für GIPFEL DER GÖTTER nur beipflichten. Jedoch handelt es sich um eine Gemeinschaftsproduktion, die naturalistischen Bilder von Jiro Taniguchi verbinden sich kongenial mit den Texten von Baku Yumemakura. Im Falle von VERTRAUTE FREMDE stammt neben dem höchst persönlichen Szenario und den Bildern auch der Text aus der Feder Taniguchis (der auch prompt weniger ausgefeilt erscheint). Unter den rein aus Taniguchis Eigenleistung entsprungenen Comics zähle ich eben VERTRAUTE FREMDE und DIE SICHT DER DINGE zu seinen gelungensten Werken.

    In meinen Augen ist Taniguchi kein revolutionärer Zeichner, im Gegenteil, sein detailreicher naturalistischer Stil
    wirkt extrem konventionell, sondern "lediglich" ein ganz großer Erzähler und Szenarist und in diesem Bereich einer der wichtigsten Mangaka der letzten 20 Jahre.

    An die zeichnerische innovative Urgewalt eines Comicgottes wie Osamu Tezuka reicht er damit natürlich bei weitem nicht heran. Man lese zum Beispiel einmal Tezukas BARBARA, ADOLF und KIRIHITO. Welch großartige Vielfalt, welch stilistisches Feuerwerk an unverbrauchten Ideen. Diese geniale genreübergreifende zeichnerische Vielseitigkeit weist Taniguchi natürlich nicht auf, dass trifft aber genauso auf alle weiteren lebenden Mangaka zu.

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