- Widmung der symphonischen Dichtung "Tapiola" -

Da dehnen sich des Westlands Wälder, uralt, geheimnisvoll in wilden Träumen, Waldgeister weben in dem Dunkel.

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Montag, 30. August 2010

TOKYO GODFATHERS – Satoshi Kons magischer Realismus 10/10



Nach Motiven des John Ford Klassikers „3 Godfathers“ aus dem Jahr 1948 formte Satoshi Kon ein warmherziges Großstadtmärchen, das mittlerweile zu meinem vorweihnachtlichen Pflichtprogramm gehört wie „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ oder „Ist das Leben nicht schön“.
In diesem Film manifestiert sich, wie in keinem anderen seiner Werke, Satoshi Kons tief empfundener Humanismus, seine trotz aller Zweifel uneingeschränkte Liebe zu den Menschen und seinen kleinen und großen Schwächen. Allein die Verlagerung des Sujets vom Wilden Westen und drei rauen Schurken hin, zu dem hektischen in winterlicher und menschlicher Kälte erstarrten Tokyo der Gegenwart und seinen drei obdachlosen Antihelden, demonstriert einen für den japanischen Animationsfilm absolut ungewöhnlichen gesellschaftskritischen Ansatz. Während Ghibli im Allgemeinen einer eher verträumten wehmütigen Nostalgie nachhängt (z.B. „Mein Nachbar Totoro“, „Tränen der Erinnerung“) oder nur zwischen den Zeilen so etwas wie Kapitalismuskritik (z.B.  "Prinzessin Mononoke", "Chihiros Reise ins Zauberland") übte, die Gesellschaftskritik in fantastische Sujets verpackte, legte Satoshi Kon hier den Finger direkt in eine offene Wunde der modernen japanischen Lebenswirklichkeit. Die Thematisierung von Randexistenzen war im japanischen Kino schon immer ein Garant für kommerziellen Misserfolg (etwa „Dodeskaden“ von Kurosawa), umso höher ist hier der Mut Kons anzurechnen, dieses heiße Eisen angepackt zu haben.

Viele Kritiker vergleichen Satoshi Kon mit David Lynch oder Cronenberg, da diese sich in ihrer Filmsprache ebenfalls in surreale Labyrinthe des menschlichen Geistes verlören. Ein Missverständnis, dass vielleicht auf eine zu starke Fixierung auf seinen in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen fallenden Erstling „Perfect Blue“ beruht. Meiner Meinung nach unterscheidet sich Kon in einem Punkt aber fundamental von den beiden Amerikanern. Ihm fehlt der kühle Fatalismus, das pessimistische Menschenbild, welches Cronenbergs und Lynchs Werke im Allgemeinen auszeichnet. Der magische Realismus in Kons Animationsfilmen strahlt stets eine wohltuende Menschlichkeit aus, einen beinahe naiven Optimismus, der selbst in der Darstellung an sich düsterer Missstände, wie dem harten Leben der Obdachlosen, ungebrochen bleibt. Wenn ich bei Kon also parallelen zu einem lebenden Regisseur ziehen müsste, sehe ich diese am ehesten noch mit Terry Gilliam, dessen abgründige phantastische Bilderwelten, zumindest in seinen besseren Filmen, gleichfalls von menschlicher Wärme aufgewogen werden. Ein besonders deutliches Beispiel ist hierfür Gilliams „König der Fischer“, der ein ähnlich magisch verfremdetes New York zeichnet, wie es Kon mit Tokyo gelungen ist und den Zuschauer ebenfalls in die an sich trostlose Welt der Obdachlosen entführt.

Satoshi Kon zelebriert den Mythos Großstadt, sein Tokyo ist ein abweisender und zugleich von innerem Leuchten erfüllter Ort, ein in winterlicher Kälte erstarrtes Häusermeer und doch brennt in den isolierten Herzen der Menschen eine unauslöschliche Flamme. Die drei Antihelden, eine jugendliche Ausreißerin, eine heruntergekommene Drag Queen und ein abgerissener Alkoholiker, geben sich ein wenig Wärme in der frostigen Weihnachtszeit. Als sie ein im Hausmüll ausgesetztes Baby finden, scheinen sich die drei in ein seltsam groteskes Zerrbild der „heiligen Familie“ zu verwandeln. In einer Odyssee durch die labyrinthischen Straßen Tokyos, machen sie sich auf die Suche nach der Mutter des Kindes und treffen dabei auf unterschiedlichste Charaktere am Rande der japanischen Gesellschaft, finden Ablehnung und Feindseligkeit, aber auch Hilfe und Zuneigung, wo man sie am wenigsten erwarten würde. Satoshi Kon gab diesen zuweilen tragikomischen Randexistenzen eine innere Würde, eine innere Größe, die keinen Zweifel daran lässt, dass sich der Wert des Menschen niemals an seinen irdischen Gütern, seiner gesellschaftlichen Stellung bemisst. Eine an sich simple Erkenntnis, die im kalten kapitalistischen Japan zuweilen aber noch genauso radikal erscheint, wie im ach so moralischen selbstgerechten Westen.
Dieses Großstadtmärchen hätte niemals seine Helden verraten, Satoshi Kon hätte sie niemals verraten. Er erwies sich mit diesem von zynischen Filmkritikern zuweilen als naiv titulierten Meisterwerk als großer Humanist des Weltkinos. „Tokyo Godfathers“ ist vielleicht nicht sein experimentierfreudigster oder bildgewaltigster Film, wirkt im Vergleich zu seinen übrigen Anime geradezu konventionell, aber hier offenbart er eine menschliche Wahrhaftigkeit, wie er sie ansonsten nur noch in einzelnen Episoden seiner großartigen Animeserie "Paranoia Agent" erreichen sollte. Für mich ist „Tokyo Godfathers“ daher sein ehrlichster, berührendster und letztlich erzählerisch rundester und überzeugendster Kinofilm.