- Widmung der symphonischen Dichtung "Tapiola" -

Da dehnen sich des Westlands Wälder, uralt, geheimnisvoll in wilden Träumen, Waldgeister weben in dem Dunkel.

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Montag, 22. November 2010

HAGAKURE-NYUMON – Zu einer Ethik der Tat


IN MEMORIAM
- Yukio Mishima -
(bürgerlich Hiraoka Kimitake)


* 14. Januar 1925 - † 25. November 1970

Einführung in das Hagakure, 
die Samurai-Lehre des 18. Jahrhundert.
- oder -
Des Wahnsinns fette Beute


Kriegerische Tapferkeit
Der Krieger setzt allen Stolz in seine Tapferkeit; entscheidend ist die Fähigkeit zu einer auf den Tod gefassten Raserei…

(Aus dem zweiten Buch)

Wenn einer sagt, es sei ein schmählicher Tod, zu sterben ohne das Ziel erreicht zu haben, so entspricht dies der hauptstädtisch arroganten Auffassung vom Weg des Kriegers. 
(Hagakure)

Yukio Mishima als rechtsradikalen Spinner abzustempeln fällt leicht. Auch heute, 30 Jahre nach seinem spektakulären und wahnwitzigen öffentlichen Selbstmord durch Seppuku, ist das Kopfschütteln außerhalb nationalistischer japanischer Kreise groß. Doch was steckt wirklich dahinter? Wie konnte ein derart weltoffener und vielseitig gebildeter Mann, der ein leidlich gutes Englisch sprach und Thomas Mann zu seinen Lieblingsschriftstellern zählte, sich in ein derart krudes Weltbild verrennen? Es fällt schwer sich in die Gedankenwelt dieses exaltierten Extremkünstlers zu versetzen.

Um der Beantwortung dieser Frage ein Stück näher zu kommen, empfiehlt sich das aufmerksame Studium seines literarischen Werkes, in dem sich zahlreiche Anhaltspunkte finden. Neben der Kurzgeschichte PATRIOTISMUS, einer düster nihilistischen Sepuku-Fantasie, und seinem Roman HOMBA, ein euphorisches Plädoyer für politische Agitation, die die Fesseln intellektueller Logik zerreißt, sollte dazu unbedingt sein in Form eines Essays verfasstes HAGAKURE-NYUMON herangezogen werden. Hier erläutert er dem Leser in klaren bekennenden Worten sein Weltbild und welche Bedeutung darin das HAGAKURE einnimmt, die alte japanische Kriegerethik.

Das HAGAKURE ist ein seltsamer Text aus dem frühen 18. Jahrhundert, also ungefähr aus dem ersten Drittel des Tokugawa-Shogunats, einer Ära tiefsten Friedens und fast vollständiger Isolation Japans. In dieser Zeit waren tatsächliche kriegerische Konflikte selten geworden und der alte Ritterstand der Samurai begann sich der Verfeinerung der Kriegskünste und anderen künstlerischen oder weltlichen Freuden zu Widmen. Einzelne Samurai kritisierten die zunehmende Verweichlichung des Kriegerstandes, die mangels praktischer Anwendung ihres Handwerks in geistige Leere verfiel. Yamamoto Tsunetomo (oder Yamamoto Jōchō) ein ländlicher Samurai der sich in seiner Kritik vor allem gegen die Dekadenz und Arroganz der Hauptstadtsamurai wandte, verfasste deshalb eine Sammlung von Leit- und Lehrsätzen für die Ausbildung der jungen Samuraigeneration. Ein idealisierter, zum Teil mit Widersprüchen behafteter in zwei Abschnitte (Bücher) unterteilter Ethik- und Verhaltens-Kodex.


Während der Showa-Zeit der dreißiger Jahre, dem Höhepunkt des japanischen Imperialismus, wurde diese Schrift zur Pflichtlektüre in der japanisch kaiserlichen Armee. Selbst Heinrich Himmler ließ, zur moralischen Erziehung, eine Sonderausgabe für die SS drucken und sah in der Samuraiethik ein Vorbild für seinen schwarzen Orden. Eine Perversion die Mishima nach dem Krieg durchaus bewusst war. Mishima lehnte den Imperialismus als kapitalistische Verirrung ab und glaubte, dass der Idealismus der Kriegsgeneration für verbrecherische Ziele missbraucht wurde. Er beklagte somit zwar den Missbrauch der alten Samurai-Ethik durch die Mächtigen, zweifelte aber nie an deren Wert als moralischen Leitfaden an sich.

Mishima verabscheute die zunehmende Liberalisierung und Verwestlichung der japanischen Kultur, glaubte das Japan als Nation seine Identität verlöre. Die Schuld dafür sah er in dem Imperialismus und Kapitalismus der dreißiger Jahre, der Japan durch eine verbrecherische Clique Industrieller und Militärs aufgedrängt worden sei und der Japan in den selbstmörderischen zweiten Weltkrieg gedrängt habe. Sein geistiges Vorbild sah er eher in den jungen idealistischen Offizieren des Aufstandes des Jahres 1936, des NI-NIROKU JIKEN Aufstandes, den er in seiner Kurzgeschichte PATRIOTISMUS und deren Verfilmung (YUKOKU 1966) direkt aufgriff. In ihrem Bemühen Japan aus dem Griff kapitalistischer Kräfte zu befreien und den Kaiser als Symbol der kulturellen Reinheit neu zu erheben, versuchten sie einen Staatsstreich, der sich schnell als hoffnungslos herausstellte. Im Scheitern des Putsches sah Mishima jedoch keine Niederlage der jungen Offiziere, sondern einen Sieg im Sinne der Ethik der Tat, wie sie das HAGAKURE propagierte. Das erreichen des Zieles ist zweitrangig, wenn das Handeln im reinen Geist höherer Ideale erfolgt. In seinem Roman HOMBA beleuchtet Mishima durchaus kritisch das politisch hitzige Klima der frühen 1930er Jahre, hinterfragt den Sinn des kläglichen Putsches eines studentischen Geheimbundes, nur um am Ende, in der längst vollkommen sinnlosen Tat des Seppuku des jungen Helden, seine Vorstellung ethischer Erfüllung zu zelebrieren. Ein Akt der Befreiung von der, in seinen Augen, zögerlich impotenten Haltung intellektueller Logik, die vom reinen Feuer des Handelns hinweggefegt wird.


Die Lebensalter
Vor seinem vierzigsten Jahr sollte einer die Weisheit und Besonnenheit beiseite lassen; besser, er verfügt über ein zuviel an Energie. Je nach seinem Charakter und seiner Herkunft wird er indessen auch nach Überschreiten des vierzigsten Jahres, so es ihm an innerer Stärke mangelt, ein Mann ohne Wirkung sein…
(Aus dem ersten Buch)

Ein Mann habe noch im Tode von der Farbe der Kirschblüte zu sein. Vor dem Seppuku-Selbstmord – so war es üblich – färbte man sich Wangen und Lippen mit Rouge, damit man auch sterbend die Frische nicht verlöre. Der Moralgrundsatz, sich vor dem Gegner nicht zu demütigen, machte aus der Schicklichkeit, sich über den Tod hinaus schön zu erhalten und wie lebendig zu erscheinen, eine Notwendigkeit.
(Mishima)

In seinem 45. Lebensjahr beendete Mishima seine Existenz. Er hatte geglaubt nur ein junger Mensch könne in Schönheit sterben. Der Zerfall des Körpers und Geistes durch Alter und Demenz bereite dem Menschen einen schmählichen Tod. Durch entsprechend intensives Training und Bodybuilding zögerte Mishima den Alterungsprozess hinaus, doch letztendlich war ihm klar, dass er dem antiken Ideal der ewigen Schönheit nur im Tode entsprechen könnte. Dieses todessehnsüchtige Ideal zelebrierte Mishima literarisch besonders eindringlich in seinem Meisterwerk DER TEMPELBRAND.

Am Morgen seines Selbstmordes legte Mishima besonderen Wert auf sein gepflegtes Äußeres, auf dass er auch im Tode sich nicht beschämen würde. Natürlich wirkt solches Bemühen im Angesicht eines derart ekelhaften Aktes wie seiner blutigen Selbstentleibung relativ sinnlos. Der Anblick muss in jeder Beziehung abstoßend gewesen sein. Mishima vertrat aber auch die Auffassung, dass im Tode kein Mensch würdelos sei, egal in welcher Pose oder Form er aufgefunden wird.


Geringschätzung der Künste
Derjenige, von dem man sagt, er sei geschickt in den Künsten, ähnelt eher einem Narren. Da er sich in seiner Einfalt ganz an eine einzige Sache gehängt, wurde er darin Meister, ohne je ernstlich nachgedacht zu haben. Solche Menschen sind zu nichts zu gebrauchen…
(Aus dem ersten Buch)

Über Intellektuelle
Der Berechnende ist ein Feigling. Denn wie alle Rechnung auf der Vorstellung von Vor- und Nachteil beruht, bedenkt er stets, was schädlich und was nützlich sei. Sterben ist ihm ein Verlust, leben ist ihm ein Gewinn, und da er zum Sterben nicht bereit ist, wird er zum Feigling. Auch der Mann von Gelehrsamkeit verbirgt durch schlagfertigen Witz und große Zungenfertigkeit, dass er seinem eigentlichen Wesen nach feige oder eigennützig ist. Das wird von vielen nicht richtig erkannt…  
(Aus dem ersten Buch)

Was aber ist „Stärke“? Sich nicht von Weisheit fortreißen zu lassen. Nicht in Besonnenheit zu versinken.  
(Mishima)

Gleichzeitig hatte ich, der ich den vom HAGAKURE gescholtenen Weg der Künste ging, wieder und wieder unter dem Konflikt zwischen der Ethik der Tat und meiner Kunst zu leiden. Der seit langem gehegte Verdacht, in der Literatur sei etwas Feiges, Unredliches verborgen, trat jetzt offen zutage. Und wenn ich die Vorstellung vom „doppelten Weg von Gelehrsamkeit und Kriegertum“ verstärkt für notwendig zu erachten begann, so geschah das im Grunde unter dem Einfluss des HAGAKURE. 
(Mishima)

Mishima sah sich selbst in seiner Jugend als solch einen schwächlichen Feigling, als fruchtlosen Intellektuellen. Etwas was er zutiefst verabscheute. Er versuchte alles um dieses hässliche Selbstbild zu zerstören und durch die Tat sein Leben gemäß des HAGAKURE neu auszurichten. Er gründete Anfang der 1960er Jahre die Tatenokai (Schildgesellschaft), die sich offiziell die Verteidigung des Tennos als Symbol japanischer Kultur auf ihre Fahnen schrieb. Die paramilitärische Vereinigung junger Männer umfasste auf ihrem Höhepunkt in ihrem weiteren Kreis über 100 Studenten. Mishima ließ auf eigene Kosten in Frankreich eine Fantasieuniform anfertigen und präsentierte in theatralischen Aufmärschen die Tatenokai der internationalen Presse. Parallel schulte er sie aber auch militärisch auf den Übungsgeländen der japanischen Selbstverteidigungstreitkräfte. Die offene Sympathie japanischer Militärs gegenüber den Tatenokai erscheint aus heutiger Sicht absolut unverständlich. Das wäre in etwa so, als dürften in Deutschland  Wehrsportgruppen mit logistischer Unterstützung der Bundeswehr auf Truppenübungsplätzen trainieren.


In seinem das HAGAKURE kommentierenden Essay zeigt Mishima klar auf welche konkreten moralischen Maßstäbe er für einen Menschen der Tat ansetzt, ein Mensch der sich der eigenen Ideale sicher ist und ohne innere Zweifel handelt. Mishima sah sich selbst in der Tradition dieser Weltanschauung, als er 1970 zu seinem sinnlosen Operettenputsch aufbrach und in einer Militärkaserne einen General als Geisel nahm. Er wusste genau um die Gewissheit seines Scheiterns, glaubte es trotzdem tun zu müssen, glaubte indem er wie geplant Seppuku beging, der in seinen Augen ultimativen Agitation, einen fulminanten theatralischen Schlusspunkt zu setzen. Dass Mishima seine ein Leben lang offen ausgelebte Neigung zum Masochismus, durch das Hineinsteigern in die Pose des Kriegers, des Märtyrers für eine Katharsis des japanischen Volkes, zu verbrämen suchte, dass er im Grunde seine ganze Existenz in ein bizarres radikales Gesamtkunstwerk verwandelte, ist ziemlich offensichtlich.


Heimliche Liebe
Die höchste Gestalt der Liebe ist, so meine ich, die heimliche Liebe. Sobald man einander erst begegnet, beginnt die Liebe zu schrumpfen. Sie ein Leben lang für sich zu behalten und in Sehnsucht zu sterben, das ist das wahre Wesen der Liebe…
(Aus dem zweiten Buch)

Eine von Zeitgenossen Mishimas vertretene These ist, dass seine Tat auch eine Art von Doppelselbstmord aus Liebe gewesen sei. Ihm wurde eine längere intime Beziehung zu seinem engsten Vertrauten in der Schildgesellschaft, Masakatsu Morita, nachgesagt, einem 25jährigen Studenten. Er versagte kläglich in seiner Funktion als Kaishaku-Nin, weshalb ein anderer Teilnehmer den schon im Sterben liegenden Mishima erlösen musste. Im Anschluss beging Morita selbst Seppuku. Der verheiratete Mishima hat sich offiziell niemals zu einer Liebesbeziehung geäußert, hatte aber schon früh in seinem Bekenntnis-Roman GESTÄNDNIS EINER MASKE seine Homosexualität und sadomasochistische Züge offenbart, eine Thematik die er erneut, auf noch drastischere Weise, in FORBIDDEN COLORS aufgreifen sollte.


… gerade das HAGAKURE (ist) der Leib, aus dem meine Literatur hervorgeht, und dazu die dauernde Quelle meiner Vitalität: nämlich durch diesen erbarmungslosen Peitschenhieb, dieses anfeuernde Geschrei, diese Schmähungen und durch diese dem Eis vergleichbare Schönheit.
(Mishima)

Nach meinem Dafürhalten macht es keinen großen Unterschied, ob man menschliche Bildung und Vervollkommnung mit dem natürlichen Tod oder, wie im HAGAKURE, mit dem Tod im Schwertkampf beziehungsweise durch Seppuku enden lässt. 
(Mishima)

Sobald es indessen ans Sterben geht, wer hat da wohl das stärkere Gefühl, Vollendung zu erreichen – der aktiv handelnde oder der Künstler? Nach meiner Vorstellung dürfte es derjenige sein, bei dessen Tod sich durch die bloße Hinzufügung eines einzigen Punktes jene Welt zu vollenden vermag. Das gewaltige Elend für den aktiv handelnden war es, wenn er nach unverkennbarer Hinzusetzung jenes einen Punktes dennoch nicht starb. (Mishima)

Mishima war ein leidenschaftlicher Autor, der sich ganz und gar seiner Kunst verschrieb. Jeden Morgen trat er diszipliniert an seinen Schreibtisch, es seinem literarischen Vorbild Thomas Mann gleich tuend, stoisch die leeren Seiten mit Wortketten füllend. Und dem Dunkel seines Ichs entstieg eine kraftstrotzende Sprache, voller vibrierender Melodramatik, unter der Oberfläche ein drohend funkelnder Abgrund. So nah am Pathos, so nah am prätentiösen Irrsinn errichtet.

Dem Dilemma der vernunftgesteuerten Selbstrefflektion kann der intellektuelle Mishima (er, der eigentlich nur Verachtung für alle Intellektuellen hegte) nur durch die Tat entrinnen. Mit dem Schwert zerschlug Mishima die Fesseln der Logik und Selbstzweifel und gab sich ganz dem Feuer des Handelns hin, die in seinen Augen reinste Form der Existenz, zu der der Mensch fähig ist. Ein innerlich zerrissener Autor, ein Jahrhunderttalent der Literatur, verglühte letztendlich in den Irrgärten des eigenen Verstandes.

Sobald einmal alle Wünsche befriedigt sind, bleibt uns allein der Tod als ungestilltes Bedürfnis.  
(Mishima)



Titel: HAGAKURE-NYUMON – Zu einer Ethik der Tat
Verlag: Kobunsha
Erscheinungsjahr: 1967
Deutsche Ausgabe: Hanser - Edition Akzente (1987)


2 Kommentare:

  1. Wie schätzt du denn Mishimas schauspielerische Leistung ein?

    Ein fulminanter, äußerst interessanter Text übrigens...

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  2. Da ich außer YUKOKU noch keinen seiner Filme gesehen habe, wage ich hier kein Urteil abzugeben. In der genannten Verfilmung seiner Kurzgeschichte PATRIOTISMUS passt er sich in seiner dort zelebrierten ritualisierten Strenge perfekt ins karge Bühnenbild hinein. Mit seinen Auftritten in den Yakuzastreifen kann man das aber bestimmt nicht vergleichen, da er dort wohl (?) ein anderes exaltierteres Bild abgibt.

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